Bayreuth, den 17.12.17 Jesaia 63,15-16.19b; 64,1-3

Liebe Gemeinde! 

Für die Adventszeit kann man ja viele Erwartungen haben. Der Einzelhandel hofft wieder auf gute Geschäfte. Die Kinder fiebern Weihnachten entgegen und erwarten viele Geschenke. Viele Menschen hoffen, dass die Wochen vor Weihnachten nicht so stressig und hektisch werden wie vielleicht in früheren Jahren. Sie sehnen sich ein bisschen Besinnung und nach etwas Freude.

Gegen all diese Erwartungen ist ja nichts einzuwenden. Wer sehnt sich nicht nach Ruhe und Besinnlichkeit? Wer freut sich nicht, wenn er zu Weihnachten ein schönes Geschenk bekommt?

Und doch will uns unser heutiger Predigttext tiefer führen. Der hier so leidenschaftlich betet, sehnt sich auch nach einer Adventserfahrung. Advent heißt ja Ankunft. Hier sehnt sich einer nach dem Kommen Gottes in seine Welt, die ihm so trostlos erscheint.

Wie muss es in so einem Menschen ausgesehen haben, der solche Sätze schreibt, die wir eben gehört haben? Der Prophet lebte in finsteren Zeiten: Jerusalem ist zerstört, der Tempel liegt in Trümmern. Die heidnischen Feinde hatten über das Gottesvolk Israel triumphiert. Es war besiegt, verschleppt in die Sklaverei. Nach Jahrzehnten kam die Wende. Die Israeliten kehrten wieder in das Land ihrer Vorväter zurück. Aber dort ist alles so trostlos. Gott hatte zwar durch die Propheten versprochen: Jerusalem und der Tempel werden wieder aufgebaut. Aber es tut sich nichts. Jahrelang, Jahrzehntelang. Warum handelt Gott nicht? Warum schweigt er? Gott scheint so weit fern. Darunter leidet der Prophet, der diese Wort schrieb, zutiefst.

Gott ist weit weg. Er greift nicht in die Geschichte eines Volkes oder dese eigenen Lebens nicht ein. Das ist das Lebensgefühl von vielen Menschen. „Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?“ so fragt der Beter des Klageliedes. Diese Frage klingt modern. Das erinnert an die Anklagen vieler Menschen:

„Bitte melde dich!“ Mit dieser Annonce suchten einmal verzweifelte Eltern ihr Kind, das von zu hause abgehauen war. Die Eltern schlugen einen Treffpunkt vor: ein Hotel in Bremen. Ob ihr Kind überhaupt diese Zeilen las, ob es zu dem Treffpunkt kam?

„Bitte, melde dich!“ Dieser Satz steht in unzähligen Kontaktanzeigen. „Bitte, melde dich!“ Mit diesen oder ähnlichen Worten haben sicher auch viele Menschen versucht, mit Gott Kontakt aufzunehmen. Gott soll sich zeigen, in einer bestimmten Lage eingreifen und helfen.

Geht das überhaupt: Mit Gott Kontakt aufnehmen? Man kann ihn ja nicht sehen!

Mit einem Fernrohr kann man zwar den sichtbaren Himmel erforschen. Aber auch das beste Teleskop kann kein Bild von Gott einfangen. Er ist in einer Welt, die für unsere Augen nicht zugänglich ist.

Diese Unsichtbarkeit Gottes hat immer wieder Menschen veranlasst, an seiner Existenz zu zweifeln. Sie sehen ihn nicht. Und deshalb glauben sie nicht an ihn. Zumindest spielt er in ihrem Leben keine Rolle.

Gott ist tot, meinte der Philosoph Nietzsche, und nicht nur er. Das heißt, er spielt für uns Menschen keine Rolle, er gibt keine Lebenszeichen von sich. Wie viel Böses geschieht jeden Tag auf dieser Welt, und Gott verhindert es nicht! Er greift anscheinend nicht ein. Die Theologin Dorothee Sölle sagte: Nach Auschwitz könne man nicht mehr an einen gütigen Gott glauben, der „alles so herrlich regiert“. Und die amerikanische Dichterin Emely Dickinson meinte: In früheren Zeiten wussten sich die Menschen im Leben und im Sterben in der gnädigen Hand Gottes geborgen. Doch diese Hand sei jetzt amputiert und Gott unauffindbar.

Wir selber mögen nicht so radikal denken und an der Existenz Gottes zweifeln. Aber auch wir können unter dem Eindruck leiden, dass Gott sich aus unserem Land und unserer Gesellschaft zurückgezogen hat. Die Gotteshäuser sind zwar nicht zerstört wie zur Zeit Jesajas der Tempel. Aber sie sind oftmals leer. In manchen Gegenden Deutschlands werden sie gar nicht mehr gebraucht. Kirchen werden verkauft und zum Beispiel zu Restaurants oder Tanzsälen umgebaut. Da kann man sich natürlich fragen: Gut speisen und sich amüsieren wollen die Menschen gerne. Aber wer hört noch gerne das Wort Gottes? Und man kann diesen Kummer auch Gott sagen: Und du, fragst du nicht danach, dass eine Generation aufwächst, die von dir weithin gar nichts wissen will?

Auch persönliche Lebenskrisen können zu Glaubenskrisen werden. Es kann eine unerwartete Krankheit sein, der plötzliche Tod eines lieben Menschen, eine gescheiterte Beziehung, die Sorge um ein Kind oder um den Arbeitsplatz. Angesichts solcher Situationen können wir uns fragen: Will denn Gott nichts oder nichts mehr von mir wissen? Hat er mich lieb oder noch lieb?

All diese Fragen sind nicht verboten. Es ist sogar wichtig, dass wir diese Fragen zulassen und nicht verdrängen. Denn unser Glaube soll ja echt sein und nicht ein frommes Spiel. Wir machen uns ja selber etwas vor, wenn wir meinen: Solche Gedanken, wie ich sie eben geschildert habe, darf ich gar nicht denken. Dann würde ich ja daran zweifeln, dass Gott schon weiß, warum es so handelt und dass er alles, auch mein Leben, in seiner Hand hat. Das ist natürlich richtig. Aber ein ehrlicher Zweifler ist Gott sicher lieber, als einer, der so tut, als ob sein Glaube unerschütterlich ist. Und ist es doch nicht.

Auch hier in unserem Predigttext schleudert der Prophet fast seine Fragen und Zweifel und Fragen entgegen. In vielen Psalmen ist es ähnlich. Die Beter klagen Gott ihr Leid. Ganz offen sagen sie es Gott.

In diesen Klagen vollzieht sich dann meist eine Wende. Auf einmal kommt in diese Gebete eine Zuversicht. Auf einmal erinnern die Beter sich wieder an Hilfen Gottes, die sie ja schon erlebt hatten. Ja, auf einmal ist sogar die Zuversicht da, dass Gott eingreift.

Luther spricht an verschiedenen Stellen vom "verborgenen Gott." In verschiedenen Lagen unseres Lebens kann uns Gott so erscheinen. Wenn wir diese Erfahrung machen, rät Luther: Fliehe von dem verborgenen, dunklen, unbegreiflichen Gott zum offenbaren, gütigen, barmherzigen Gott. So macht es auch hier der Prophet Jesaja. Er wendet sich an Gott als den Erbarmer, als den Erlöser, als den Vater.

Gott ist oft unbegreiflich in seinem Handeln. Aber er ist deshalb kein Monster, sondern er ist und bleibt für die, die einmal in ihrem Leben kennen und lieben gelernt haben, ihr Vater.

Wissen Sie das auch? Weißt du das auch? Gott ist doch dein Vater. So dürfen wir wirklich Gott anreden. Jesus hat es uns ja so gelehrt. "Vater unser im Himmel", so dürfen wir mit Gott reden. Er meint es gut mit uns. Er liebt uns, auch trotz unseres Versagens, ja gerade wegen unseres Versagens. Gerade die, die erkannt haben, dass sie Sünder sind, die zurecht Gottes Strafe verdient haben, die dürfen es glauben: Er stößt sie nicht weg. Gerade für solche Menschen ist Jesus ja am Kreuz gestorben. Sondern er nimmt sie an als seine geliebten Kinder. Und als Kinder dürfen das festhalten, was ein Paulus erkannt hat: Nichts darf uns von der Liebe Gottes trennen.

Ein kleiner Junge geht an der Hand seines Vaters spazieren. Auf einer kleinen Mauer tanzt er balancierend entlang und hält sich bei seinem Vater fest. Plötzlich sagt er ganz unvermittelt zu seinem Vater: "Papa, das Leben lohnt sich!" Natürlich weiß dieser Junge noch nichts vom Leben. Und doch ahnt er: An der Hand des Vaters lohnt sich das Leben. Und so können wir auch als Kinder Gottes geborgen und gelassen leben, weil Gott uns bei unserer Hand hält.

Wer wie ein Kind Gott als seinem Vater vertraut, der legt nun nicht seine Hände in den Schoß. Sondern er handelt vielmehr wie der Beter unseres Klageliedes. Er findet sich nicht mit dem trostlosen Zustand seines Volkes ab und meint: „Da kann man halt nichts machen. Es ist halt so, wie es ist!“ Sondern er kommt zu Gott mit allem, was ihn bedrängt. Er lädt den Schutt seiner Seele bei ihm ab.

Das darf jeder machen, den eigenes oder fremdes Leid bedrückt: Gott anrufen, ihm sein Anliegen vorlegen, ja gewissermaßen in den Ohren liegen. Fromme Zurückhaltung ist bei Gott fehl am Platze. Luther drückt es mit seiner drastischen Sprache so aus: Du musst Gott solange mit seinen Versprechungen, seinen Verheißungen die Ohren reiben, bis sie heiß sind.

Ich habe einmal folgende Geschichte gehört: Eine Frau wollte unbedingt mit ihren Kindern aus einem kommunistischen Land nach Deutschland ausreisen. Denn sie sah nach dem Tod ihres Mannes in ihrer alten Heimat keine Zukunft mehr. Sie war zwar Deutsche. Aber eine Ausreise war eigentlich unmöglich. Denn es war die Zeit vor der Wende. Doch die Witwe ließ sich nicht beirren. Zweimal die Woche besuchte sie den Parteibonzen ihrer Stadt und machte ihm ihr Anliegen klar. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Sie ging ihm so auf die Nerven, dass er die Ausreise nach Deutschland erlaubte, ja befahl. Er wollte sie unbedingt los haben.

Mir fiel dazu eine ähnliche Geschichte ein, die Jesus erzählt hat. Eine Witwe machte es ähnlich wie die Frau, von der ich gerade erzählt habe. Sie fiel einem Richter so lange auf die Nerven, bis er ihr ihr Recht verschaffte. So wird Gott auch ein dringliches Gebet nicht überhören. So verschlossen uns der Himmel auch erscheinen mag: Er hört das Schreien seiner Kinder. Auch wenn wir meinen, unsere Gebete seien ins Leere geredet: Sie erreichen Gottes Vaterherz. Er wird die nicht zu Schanden werden lassen, die ihm gehören.

Wir dürfen in unseren Erwartungen an Gott nicht zu brav und zu bescheiden sein. Das war der Beter unseres Predigtabschnitte ja auch nicht. Ganz im Gegenteil. Er fleht sogar: "Ach, dass du doch den Himmel zerrissest und führest herab…" Da erwartet einer Großes von Gott. Er erwartet, dass Gott in dieser Welt ankommt,. Einige hundert Jahre später war es ja tatsächlich soweit. An Weihnachten war der Himmel offen. Gott kam auf diese Erde herab. Er wurde als ein Mensch geboren. An diese Botschaft denken wir ja im Advent. Gott ist auf diese Erde herabgekommen. Er hat seine Geschöpfe nicht alleine gelassen sondern ist ihnen als Helfer und Erlöser ganz nahe gekommen.

Doch das ist noch nicht alles, worum der Beter bittet. Das Gebet geht ja noch weiter: "Ach, dass du doch den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, damit dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssen."

Es geht hier um mehr als nur um Hilfe und Trost für Gottes Volk. Da geht es um eine grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse. Da geht es auch um Recht und Gericht. Das Böse und seine Handlanger soll beseitigt werden. Das Dunkle soll besiegt werden, grundlegend und eine neue Welt entstehen.

Hier wird eine Hoffnung angesprochen, die wir in unserer Kirche kaum mehr wagen, auszusprechen. Sie erscheint uns zu phantastisch, zu unmöglich. Aber sie ist fest in unserem apostolischen Glaubensbekenntnis verankert: "Von dort wird er, also Jesus, kommen, zu richten die Lebenden und die Toten". Das ist keine Hoffnung, auf die man großzügig verzichten kann. Sondern sie gehört zu unserem christlichen Glauben dazu. Der Theologe Hans-Joachim Kraus schrieb einmal: "Eine Kirche, die sich nicht mehr ungeduldig und leidenschaftlich nach dem letzten Kommen Gottes sehnt, ist im Grunde eine sterbende Kirche."

Wir brauchen und sollen nicht so kleinkariert von Gott denken. Wir dürfen und sollen ihm das zutrauen, was an vielen Stellen der Bibel versprochen ist: Jesus kommt wieder und mit ihm eine neue Welt, in der das Böse keinen Platz mehr hat.

Eine Kirche, die nur noch etwas für das Diesseits erwartet, hat das Beste verloren. Eine Kirche, die nur noch in sozialen Aktivitäten aufgeht, hat ihr Herz verloren. Sie ist tot. Eine Kirche, die sich damit begnügt, Dekoration an den Festtagen eines Volkes zu sein, kann man vergessen. Eine Kirche, die keine Naherwartung mehr hat, hat das Evangelium aufgegeben.

Deshalb ist es wichtig, diese Wort von Jesus ernst zu nehmen, gerade in der Adventszeit: "Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich euer Erlösung naht." Wir haben eine wunderbare Hoffnung, nämlich dass der Herr wiederkommt. Er steht vor der Tür und kommt einmal mit Macht und Herrlichkeit.

Das Reich Gottes wird kommen, ganz sicher, in unserem Leben, in dem anderer und schließlich auch einmal auf der ganzen Welt. Und es wird sich auch einmal die größte Verheißung der Bibel erfüllen: „Siehe, ich mache alles neu!“

Amen