Bayreuth, den 7.7.19 1. Timotheus 1,12-17

Liebe Gemeinde! 

"Ich bin der Größte!" Dies schrie ein später weltberühmter Boxer vor dem entscheidenden Kampf gegen den Boxweltmeister aller Klassen Sonny Liston. Alle hielten ihn wegen seiner großmäuligen Sprüche für irre. Aber er ließ seinen Sprüchen Taten folgen. Er schlug Sonny Liston durch K.O. Sein Name: Cassius Clay, der sich später Muhammed Ali nannte. Viele bewunderten ihn trotz oder gerade wegen seines äußerst ausgeprägten Selbstbewusstseins.

"Ich bin der Größte!" Dies sagte 1900 Jahre vorher ein ganz anderer Mann. Aber er rühmte sich nicht wegen seiner Stärke sondern im Gegenteil wegen seiner Schwäche. "Ich bin der größte Sünder!" So schrieb er es an seinen jungen Freund Timotheus. Wir haben diese Worte vorhin gehört. Sein Name: Paulus.

Er sagt es nicht prahlerisch. Das gibt es leider auch. Verbrecher rühmen sich wegen der Vielzahl ihrer Untaten, Playboys wegen der vielen Frauen, die sie verführt haben. Bei Paulus ist das anders. Er will nicht mit seinen Schandtaten angeben, will seine Lebensgeschichte nicht bewusst besonders düster und dunkel zeichnen. Sondern es geht ihm um Jesus, der Sünder annimmt, der auch ihn angenommen hat, sogar ihn, der ein besonders großer Sünder war.

Er war ein Lästerer, so schreibt er. Das heißt er hat Gottes Ehre durch Wort und Tat in den Schmutz gezogen, sicher ohne sich dessen bewusst zu sein. Ganz im Gegenteil: Er dachte ja, die Christen lästerten Gott. Denn sie verehrten Jesus als Gottes Sohn. Doch es war genau anders herum. Er, Paulus, lästerte Gott, weil er Jesus nicht als Messias anerkannte. Weiter, so schreibt er, war er ein Verfolger. Er verfolgte Christen und freute sich, wenn einer von ihnen, wie Stephanus, der erste christliche Märtyrer, umgebracht wurde. Schließlich war er nach seinen eigenen Worten ein Frevler, ein religiöser Fanatiker, der für seine Überzeugung bereit war, über Leichen zu gehen.

Das klingt nun alles ganz übel, was Paulus über seine vorchristliche Vergangenheit berichtet. Und doch wurde er zu einem besonders gesegneten Boten Gottes. Mit seinem Vorleben steht Paulus nicht alleine da. Viele Männer und Frauen der Bibel hatten Dreck am Stecken. Ein Mose war ein Mörder, ein Jakob ein Betrüger, ein David ein Ehebrecher oder ein Petrus ein Großmaul. Ganz offen berichtet die Bibel von ihrem Versagen. Sie verschweigt nichts und beschönigt nichts. All diesen Menschen war eines gemeinsam: Gott liebte sie und segnete sie. Gerade mit ihnen konnte er besonders viel anfangen. Man muss sogar sagen: Nur mit Sündern kann er etwas anfangen.

Ein Pfarrer in den USA soll einmal über das Portal seiner Kirche ein großes Schild gehängt haben. Darauf stand: „Eintritt nur für Sünder.“ Am ersten Sonntag danach hatte er eine leere Kirche. Warum? Ganz klar, keiner wollte ein Sünder sein. Danach wurde die Kirche immer voller. Und die Erklärung dafür? Weil jeder neugierig war, einmal einen wirklichen Sünder zu sehen!

"Sünde" ist ein anscheinend ungeliebtes Wort. Keiner will ein Sünder sein. Deshalb zunächst die leere Kirche. Aber die Sünde des anderen ist interessant und macht neugierig. Aus dieser Beobachterposition heraus besuchten nun die vorhin erwähnten amerikanischen Gemeindeglieder ihre Kirche wieder.

Die Geschichte gibt ein typisches Denken wieder: Sünde mag es schon geben. Aber mit meinem Leben hat sie nichts zu tun. Das Wort "Sünde" ist altmodisch geworden. Man hört es immer seltener - sogar in der Kirche. Ein böser Verdacht hat sich stattdessen breitgemacht: Das Reden von der Sünde mache den Menschen kaputt. Es würden ihm dadurch nur Schuldgefühle eingeredet und sein Selbstwertgefühl würde zerstört. Das Reden von der Sünde mache traurige, geknickte Menschen.

Stimmt das? Nein, es ist genau das Gegenteil der Fall. Sünde hat die Tendenz sich zu verstecken und macht so im Verborgenen den Menschen unglücklich. Sie muss aufgedeckt und ans Licht gebracht werden, damit sie auch bekannt und vergeben werden kann und ein Mensch froh und frei werden kann.

Sünde ist wie ein Krebsgeschwür, das in einem Menschen wuchert und ihn zerstört, wenn es nicht bekämpft wird. Die Behandlung von so einem Krebsgeschwür ist nun kein Pappenstiel. Bestrahlungen, Chemotherapie oder Operationen machen dem Kranken zu schaffen. Aber nur durch diese nicht schönen Behandlungsmethoden kann die Krankheit besiegt werden. Und groß ist die Freude und die Erleichterung, wenn dies tatsächlich geschieht.

Beim Umgang mit der Sünde ist es genauso. Sie muss beim Namen genannt werden. Sie muss aufgedeckt werden. Erst dann verliert sie ihre Macht. Man muss davon reden, dass es Sünde ist, wenn man den Namen Gottes nur gedankenlos in den Mund nimmt aber nicht mehr beim Beten. Man muss davon reden, dass es Sünde ist, wenn der Sonntag zum Ausschlafen aber nicht zum Gottesdienstbesuch verwendet wird, wenn man seine Eltern verachtet und nicht respektiert, wenn man andere beleidigt und mobbt, wenn man Pornos guckt oder Sex vor der Ehe hat, wenn man bei der Steuererklärung oder bei Versicherungen betrügt, den Anderen anlügt oder übertreibt und angibt und ihm nicht gönnt, wenn er etwas hat oder kann, was wir nicht besitzen oder können. Und vor allen Dingen muss man vom eigentlichen Wesen der Sünde reden: das man sich selbst in den Mittelpunkt des Lebens stellt und nicht Gott, dass man sich überaus selbst liebt und nicht seinen Schöpfer und seinen Nächsten.

Natürlich tut das weh, wenn man durch dieses Reden von der Sünde sich selbst erkennt. Aber nur dann kann sie auch vergeben werden und verliert ihre unheimlich versklavende und quälende Wirkung. Nur dann wird der Mensch frei und kann wieder durchatmen.

Sünde können wir los werden. Die Möglichkeit dafür hat Gott selber geschaffen. Jesus hat sie geschaffen, durch seinen Tod am Kreuz. Durch seinen Tod hat er die Last unserer Sünde auf sich genommen. Er tat dies aus Liebe zu uns, stellvertretend für uns. Deshalb stimmt das, was Luther gesagt hat: Es gibt nur zwei Orte, auf dem unsere Sünde liegen kann: "Entweder ist sie bei dir, dass sie dir auf dem Halse liegt. Oder sie liegt auf Christus, dem Lamm Gottes. Wenn sie nun dir auf dem Rücken liegt, so bist du verloren. Wenn sie aber auf Christus ruht, so bist du frei und wirst selig."

Liegt die Sünde auf uns, so ist sie wie eine schwere Last, die uns niederdrückt. Liegt sie auf Christus, so ist sie uns abgenommen und wir können wieder aufleben. Liegt die Sünde auf uns, so schnürt sie ein. Wir sind Sklaven unserer gierigen, sorgenden und selbstsüchtigen Gedanken. Liegt sie auf Christus, so sind wir von seiner Liebe befreit. Liegt die Sünde auf uns, so ist sie wie ein Spinnennetz, das uns einwickelt. Je mehr wir aus eigenen Kräften versuchen, davon frei zu werden, desto mehr verstricken wir uns darin. Liegt sie auf Christus, dann vertauschen wir das Netz der Sünde mit dem Netz seiner Liebe. Dieses Netz schnürt uns nicht ein, sondern fängt uns auf und bewahrt uns vor dem Absturz.

Wir brauchen vor unserer Sünde nicht die Augen zu verschließen sondern dürfen uns ohne Angst zu ihr bekennen. Denn es gibt ja einen, dessen Macht größer ist als die Macht der größten Sünde. Das ist Jesus, der jedem Sünde vergibt, der sie bekennt, der sie ausspricht, und wenn es nur dieses einfache Gebet ist, das einer im Stillen spricht: "Gott, sei mir Sünder gnädig." Gott sei Dank gibt es die Beichte, dürfen wir zu Männern und Frauen gehen, die diesen Auftrag, Sünden im Namen Gottes zu vergeben, haben, dürfen uns von ihnen die Vergebung unserer Sünden zusprechen lassen. Gott sei Dank gibt es auch die Beichte und das Abendmahl im Gottesdienst, wo wir unsere Sünden los werden und wieder fröhlich nach hause gehen können.

Auch Paulus hat es erlebt: Jesus nimmt mich an, auch wenn ich noch viel falsch in meinem Leben gemacht habe. Deshalb konnte er so freimütig von seinem Versagen reden. Es war ihm ja vergeben. Es musste ihn nicht mehr belasten. Die Schuld lag nicht mehr auf ihm sondern auf Jesus.

Paulus durfte noch etwas erfahren: Gerade ihn konnte Jesus ganz besonders gebrauchen. Er wurde ein Apostel, das heißt ein Gesandter. Jesus schickte ihn an viele Orte im ganzen Römischen Weltreich, bis nach Rom. Viele, viele Menschen kamen durch seine Botschaft des Evangeliums zum Glauben an Jesus. Paulus wurde der größte Missionar seiner Zeit, vielleicht sogar aller Zeiten.

Sicher hatte Paulus für seine Aufgaben die entsprechenden Fähigkeiten. Er war hoch intelligent, ein glänzender Stratege, hatte den nötigen Mut und die erforderliche Zähigkeit, um monate- und jahrelang in fremden Städten und Ländern unterwegs zu sein. Aber das Entscheidende für seinen Erfolg war etwas Anderes. Gottes Kraft war in seiner Schwachheit mächtig. So schrieb er es einmal an die Korinther. Seine Sünde war groß. Aber die Gnade Gottes war noch viel größer.

Paulus schreib einmal: "… das Verachtete hat Gott erwählt, das nichts ist." Man kann es auch so ausdrücken: Gott liebt Nullen. Und Gott gebraucht Nullen. Der Größte bei Gott ist der, der sich als den Geringsten erkannt hat.

Damit stellt er die menschlichen Wertmaßstäbe vollkommen auf den Kopf. Es findet die Umwertung aller Werte statt. Die Größten bei uns Menschen sind ganz andere: Das sind die Stars im Sport, in der Unterhaltungsbranche, in der Wirtschaft oder in der Politik. Wir bewundern die Schönen, Reichen, Erfolgreichen und Mächtigen.

Aber Gott hat eine Schwäche für Versager und Sünder. Mit ihnen und durch sie vollbringt er oft seine größten Taten. Warum nur?

Denken wir an Franz von Assisi. Dieser mittelalterliche Heilige wurde am Ende seines gesegneten Lebens gefragt, warum er soviel für Gott tun konnte. Er antwortete darauf: „Folgendes muss der Grund gewesen sein. Gott sah vom Himmel herab und sprach: Wo kann ich den schwächsten, den geringsten, den armseligsten Mann auf dieser Erde finden? Dann sah er mich und dachte: Ich habe ihn gefunden. Ich will durch ihn wirken, denn er wird sich nichts darauf einbilden und meine Ehre für sich selbst in Anspruch nehmen. Er wird wissen, dass ich ihn immer gerade seiner Niedrigkeit und seiner Unbedeutsamkeit wegen benutze.“

Wer sich die Ehre gibt, den kann Gott nicht gebrauchen. Aber wer weiß, dass er alles Gute und allen Segen in seinem Leben Gott zu verdanken hat, der gehört zu den Lieblingen Gottes, selbst wenn er ein Sünder oder gar ein Verbrecher ist.

Von so einem Menschen habe ich erst vor kurzem gelesen. Er heißt Wilhelm Buntz und seine Lebensgeschichte hat den Titel "Der Bibelraucher".

Als Baby wird Wilhelm von seiner Mutter ausgesetzt. Der traumatisierte Junge entwickelt sich zum schwer erziehbaren Jugendlichen und gerät auf die schiefe Bahn. Er verübt fast 150 Straftaten. Nach einem Totschlag wird er zu 14 Jahren Haft verurteilt. Als ihm in der Zelle Papier zum Zigarettendrehen fehlt, greift er zur Bibel. Er liest eine Seite, reißt sie raus und rollt seinen Tabak darin ein. So qualmt er sich bis ins Neue Testament. Doch dann packt den „Bibelraucher“ ein Text. Gott sagt: "Ich bin treu wie ein liebender Vater." Ist das möglich? Er wagt den ersten Schritt in eine völlig neue Richtung. Es wird ihm klar: Er war in seinem Leben nicht in erster Linie Opfer sondern Täter. Er hatte große Schuld auf sich geladen, Schuld, die ihm Jesus nun vergeben wollte. Dann fing er an zu beten: "Gott wenn es dich wirklich gibt, dann mach mit mir, was du willst. Dann nimm mich und mach irgendetwas Sinnvolles aus mir. Jemanden, der Menschen nichts Schlechtes will, sondern Gutes." Dieser Gedanke war völlig neu für ihn. Und trotzdem hatte er das Bedürfnis gehabt, ihn auszusprechen. Es war seltsam. Aber es fühlte sich gut an. Es fühlte sich frei an. Er war Gefangener in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Aber innerlich fühlte er sich freier, als er sich je gefühlt hatte.

Er wurde ein ehrlicher Mensch, was im Gefängnis nicht immer einfach war und ihn in manche Schwierigkeiten brachte.

Nach seiner Entlassung geht er zu den vielen Menschen, denen er Böses zugefügt hatte und entschuldigte sich bei ihnen. Es kam oft zu bewegenden Begegnungen. Sein Leben kommt in eine total andere Richtung. Er geht einer ordentlichen Arbeit nach, heiratet, wird Vater von zwei Kindern.

Es ist ihm ein Herzensanliegen, die Botschaft weiterzugeben, die sein Leben so geprägt hat: Niemand kann so tief fallen, dass Gott ihn nicht wieder herausholen könnte. Wir dürfen Schuld nicht auf die leichte Schulter nehmen, aber wir dürfen sicher sein, dass Schuld vergeben werden kann.

Heute ist er, soweit es an ihm liegt, mit den Menschen versöhnt, denen er etwas angetan hatte. Er ist schuldenfrei. Der Großteil der 1,2 Millionen D-Mark wurde ihm von seinen Gläubigern erlassen. Es findet sogar Versöhnung mit seinem Vater und seiner Stiefmutter statt, mit dem Vater, der vor Gericht um die Todesstrafe für seinen missratenen Sohn gebeten hatte und der Stiefmutter, die einmal zu ihm gesagt hatte: "Es wäre besser gewesen, du wärest damals im Straßengraben gestorben."

Einmal predigte er in einem Gefängnis. Nachher kam ein Gefangener auf ihn zu und sagte: "Ich habe dir in die Augen geschaut. Früher waren sie eiskalt und mausetot. Aber wenn ich dir heute in die Augen sehe, dann sind sie lebendig. Ich glaube, es lohnt sich tatsächlich, mal darüber nachzudenken, was du eben gesagt hast."

Es lohnt sich nicht nur, darüber nachzudenken. Sondern es lohnt sich, dem sein Leben anzuvertrauen, der einen Paulus und auch einen Wilhelm Buntz total verändert hat. Warum nicht auch dich?

Amen