Bayreuth, den 14.7.19 Lukas 6,36-42

Liebe Gemeinde! 

Es sind klare Worte, die Jesus hier gebraucht. Gott will nicht, dass wir andere kritisieren, genauer gesagt, lieblos kritisieren, in der Meinung, dass wir besser sind als sie. Diese Art von Kritisieren steckt tief in uns. Sie ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir sie oftmals gar nicht bemerken.

Ein Beispiel dazu: Ein Mann ist in einem Betrieb für Einstellungsgespräche für junge Nachwuchskräfte zuständig. Auf einem Fortbildungskurs wurde er gebeten, einen Zettel auszufüllen. Er sollte zum einen die Vorurteile aufschreiben, die er zu haben meinte. Und zum anderen sollte er die Vorurteile aufschreiben, die er bei anderen wahrgenommen hatte und die er selber nicht hatte. Alle Teilnehmer sollten die gleiche Aufgabe erfüllen. In der ersten Kategorie zählten nahezu alle nur nebensächliche Dinge auf. Bei den anderen Menschen trugen sie schwerwiegendere Vorurteile wie Rassismus, Sexismus und andere schlimme Dinge ein. Bei der Auswertung dieser Aufgabe mussten sie sich eingestehen, dass sie selber mehr Vorurteile besaßen, als sie sich eingestanden haben.

An andere einen schärferen Maßstab als an uns selbst anzulegen, erscheint uns normal. Es verschafft uns ein gutes Gefühl. Ist doch schön zu glauben, dass wir besser sind als andere. Sicher, wir haben auch Fehler. Die hat ja jeder. Aber die anderen haben noch viel größere. Diese Meinung verleiht uns ein Gefühl der Überlegenheit.

Aber diese Einstellung ist ein großer Irrtum. Wer gerne andere kritisiert, verrät mehr über sich, seine Lieblosigkeit und Unkenntnis, als über andere.

Zu Nicky Gumbel, einem englischen Pfarrer, kam einmal ein bekannter Künstler. Dieser bat ihn, seine Bilder zu betrachten. Und er sollte über diese Bilder ein Urteil abgeben. Gumbel verstand zwar nichts von moderner Kunst. Aber er kam dieser Bitte nach. Er hielt sich seiner Meinung nach ganz wacker, bis er zu einer Leinwand kam, die sehr seltsam aussah. "Ist das die Rückseite?" fragt er. "Machen Sie sich nicht lächerlich. Das ist das Bild." Dann erklärte der Künstler sein Gemälde. Gumbel wurde nun klar, was für ein gewaltiges Bild dies war. Und er schämte sich. Denn seine ganze Unkenntnis war offenbart worden. Er hatte ja keine Ahnung von moderner Kunst und hatte doch seine Urteile abgegeben. Durch diese Begebenheit ging ihm auf: Wenn wir andere und anderes beurteilen, zeigen wir uns selber, und eben oftmals unsere Unkenntnis, unsere Überheblichkeit oder unsere Kleinkariertheit.

Nichts anderes will Jesus uns mit diesem grotesken Bild vom Splitter und vom Balken sagen. Als Sohn eines Zimmermannes hat er sicher immer wieder Folgendes erlebt: Ein kleiner Splitter geriet beim Arbeiten mit Holz in das Auge eines anderen. Aber nun stellen wir uns vor, so Jesus: Wir hätten selber einen Balken im Auge. Doch der würde uns gar nicht stören. Vielmehr interessieren wir uns über Gebühr für den Splitter im Auge des Anderen. Wäre das nicht seltsam? Klar, aber so handeln wir oft. Wir sehen oft überdeutlich den Splitter im Auge eines anderen und nehmen den Balken im eigenen Auge gar nicht wahr.

Letztlich neigen wir alle dazu, die Fehler anderer sehr genau, wie mit einer Vergrößerungslupe wahrzunehmen, und uns über sie zu erheben. Wir haben ein sehr genaues Gespür dafür, wie die anderen sein sollten und registrieren sehr deutlich, wo sie etwas falsch gemacht haben. Und so kommt es zu solchen Äußerungen wie: „Ach der! - Ach die! - So etwas könnte mir nie passieren! - Einfach unmöglich, wie der sich verhalten hat! - So einem Menschen sollte man den Führerschein entziehen!“ Oder noch schlimmer: „Von dem war ja nichts anderes zu erwarten!“

Gerade in frommen Kreisen ist die Kritiksucht eine große Gefahr. Denn man kennt ja den Maßstab Gottes, und wendet ihn nun bei anderen als bei sich an.

Der bekannte Schweizer Pfarrer Walter Lüthi hat einmal gesagt: „Der Satan verleitet uns Christen dazu, anstatt dass wir den Menschen die Vergebung weitergeben, dass wir uns ganz ungebührlich für ihre Sünden interessieren und ihre Fehler registrieren. Man interessiert sich bei den Frommen viel zu viel für die Sünden der anderen. Was für eine schandbar lange Zeit des Lebens verschwatzt man doch über die Sünde der Mitmenschen! Wir verlachen und kritisieren sie, wir richten über sie, wie wenn wir nichts Gescheiteres und Dringlicheres zu tun hätten , nämlich ihnen die erhaltene Vergebung weiterzugeben.“

Auch wir brauchen ja Vergebung, vielleicht mehr als der andere, der uns so zu schaffen macht. Wenn ich einen Splitter im Auge meines Nächsten sehe, kann ich sicher sein, dass ich selbst einen Balken im Auge habe. Ich bin nicht besser als der andere. Das wäre ein tödlicher Irrtum, für den mich Gott einmal zur Rechenschaft ziehen müsste. Wir sind nicht besser, im Gegenteil, wir wären zu Gleichem oder Schlimmerem fähig. Das Böse steckt auch in uns.

Vielleicht haben wir auch schon die Erfahrung gemacht: Wenn wir gedacht oder gesagt haben: Dies oder jenes könnte uns nie wie jenem anderen passieren, machten wir über kurz oder lang genau den gleichen Fehler, - als ob Gott uns zeigen möchte, wer wir wirklich sind. Im Sprichwort wird diese Erfahrung so ausgedrückt: Hochmut kommt vor dem Fall.

Das Unheil in meinem Leben geht in erster Linie von meinem eigenen Herzen aus. Das Ich ist unser größter Feind, nicht die anderen. Bei uns sollen wir mit unserer Kritik ansetzen. Dort gäbe es viel mehr zu finden, als bei unserem Mitmenschen.

Wer seine Riesenschuld kennt, dem vergeht das Richten. Er hat genug damit zu tun, vor seiner eigenen Tür zu kehren und keine Zeit mehr, sich um den Kehricht anderer zu kümmern.

Er merkt dann, dass er auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist. Um die dürfen wir ja bitten. Denn unser Gott der Bibel, des Alten wie des Neuen Testaments ist ein barmherziger Gott. Im Wort "Barmherzigkeit" stecken die Worte "arm" und "Herz" drin. Barmherzigkeit heißt also: Gott hat ein Herz für die Armen, für die, die ihn brauchen.

Mit dem Wort "Barmherzigkeit" wird auch das Wesen von Jesus beschrieben. "Es jammerte ihn", so übersetzt Luther das Mitleiden und das daraus folgende barmherzige Handeln von Jesus. Aus solchem Jammer vollzieht er die wunderbare Speisung der 5000. Ein Aussätziger kommt zu ihm, - da packt ihn das Erbarmen. Zwei Blinde schreien zu ihm. Die anderen wollen sie zum Schweigen bringen. Aber Jesus ruft sie voller Erbarmen zu sich. Eine Witwe trägt ihren einzigen Sohn zu Grabe. Als Jesus sie sieht, dreht sich alles in ihm um, heißt es wörtlich. Ihm ist das Leid der Witwe unerträglich.

Wir haben einen barmherzigen Gott. Der Ruf nach Erbarmen hat auch Eingang in die Liturgie des Gottesdienstes gefunden. "Kyrie eleison", - "Herr erbarme dich", so beten wir jeden Sonntag im Gottesdienst.

Jesus hat Gott einmal mit einem barmherzigen Vater vergleichen. Wir alle kennen die Geschichte vom verlorenen Sohn. Dieser Sohn kam zurück aus der Fremde, mit abgerissenen Kleidern und keinem Pfennig mehr in der Tasche. Und doch kam ihm sein Vater entgegen, umarmte und küsste ihn und nannte ihn seinen lieben Sohn. So geht Gott auch uns entgegen, wenn wir nur zu ihm kommen, mit all unserer Schuld, mit unserer Angst, unserer Sorge, unserer Leere und Trauer. Gott will nur, dass wir ihn auch um seine Hilfe bitten. Wer bittet, der empfängt auch. Die Bibel belegt diese Wahrheit in vielen Geschichten. Und auch unser Gesangbuch ist voller Erfahrungen von Menschen, die in großem Leid waren, und Gott kam ihnen nahe und hat sie getröstet. Viele Gesangbuchverse sind ja nicht am Schreibtisch ausgedacht, sondern sie sind erlitten, durchlebt, erfahrene Wirklichkeit.

Und diese Lieder sind auch oft voller Jubel über den Gott, der so barmherzig an ihnen gehandelt hat. Ich denke an das wunderschöne Lied von Hiller, in dem es heißt: "Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert. Das zähl' ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat's nie begehrt. Nun weiß ich das und bin erfreut, und rühme die Barmherzigkeit."

Wenn Gott uns so barmherzig ist, sollten wir dann nicht auch anderen gegenüber barmherzig sein? Eigentlich ist es unmöglich, dem Nächsten nicht zu vergeben, wenn uns selber von Gott vergeben wurde. Sondern es wird vielmehr so sein, dass ich denke: Der andere ist doch einer, der wie ich selbst auf die Barmherzigkeit angewiesen ist. Ich kann ihn nicht verdammen, so wie Gott mich auch nicht verdammt hat. Er wird im Gegenteil Luthers Auslegung zum 8. Gebot von Herzen befolgen, dass wir unseren Nächsten entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.

Ich denke an Joseph. Er hatte von seinen Brüdern viel Unrecht erlitten. Sie waren neidisch auf ihn, neidisch auf seine Sonderstellung bei ihrem Vater Jakob. Da entschlossen sie sich, ihn umzubringen. Der Tod blieb ihm zwar erspart. Aber Joseph wurde von seinen Brüdern an Kaufleute als Sklave verkauft. Es kamen harte, schwere Jahre für ihn. Er musste sogar ins Gefängnis. Aber er kam wieder heraus, machte Karriere am Hof des Pharao. Durch seine Weitsicht verhinderte er in Ägypten eine Hungersnot und rettete letztlich auch seine Familie vom Hungertod. Staunend erfuhr Joseph: Seine Brüder haben es mit ihm böse gemeint. Aber Gott machte aus seiner Lebensgeschichte nur Gutes. Er schrieb auch auf krummen Linien gerade.

Die Familie Jakobs siedelte nach Ägypten über. Nach dem Tode Jakobs bekamen es die Brüder Josephs mit der Angst zu tun. Wird er sich nun an ihnen rächen? Aber Joseph vergibt seinen Brüdern. Wie Gott ihn behandelt hat, so behandelt er auch seine Brüder. "Wie Gott mir, so ich dir", wurde sein Lebensmotto. Es sollte auch unseres sein.

Joseph sieht in seinem Leben die Barmherzigkeit Gottes am Wirken. Trotz allem Bösen, das ihm Menschen zufügen wollten – Gott meinte es gut mit ihm! Nur mit dieser Einstellung kann ich auch anderen vergeben. Wenn ich nicht auf das Böse fixiert bin, das ich erfahren habe, sondern auf das Gute schaue, was Gott mir gegeben hat.

Wie lange Joseph gebraucht hat, bis er sich zum Vergeben durchgerungen hat, steht nicht in der Bibel. Er hatte ja lange Jahre Zeit.

Dem andern zu vergeben – das ist keine Forderung, die an mich gestellt wird, die ich in einem einmaligen Akt erfülle. Von seelisch schwer traumatisierten Menschen, die wirklich vergeben wollten, weiß man: es ist wie beim Zwiebel häuten, es geht stufenweise, schichtweise. Es kommen immer wieder Erinnerungen an das Unrecht hoch – aber sie wollen diese Erinnerungen dann nicht durch Groll und Bitterkeit vertiefen, sondern sie legen sie immer wieder ab zu Jesu Füßen, unten am Kreuz.

Dass Gott es gut mit uns meint, das lernen wir auch an der Geschichte von Jesus am Kreuz Jesu. Wie übel wurde Jesus mitgespielt! Sie haben Jesus nicht nur verkauft wie Joseph, sondern verraten und geschlagen wie einen Verbrecher. Ans Kreuz festgenagelt hauchte er sein Leben aus. Bitterböse haben sie es ihm gemacht, aber Gott hat es gut gemacht. Die Schuld der ganzen Menschheit wurde am Kreuz bezahlt. Aus den Bündeln von Gemeinheiten ist ein Segensbund für die ganze Welt geworden. Am Ort der größten Ungerechtigkeit – da spricht Gott uns gerecht. Vom größten Scherbenhaufen dieser Erde, von der Schädelstätte Golgatha, ist zu hören: "Es ist vollbracht!“

So gut meint es Gott mit jedem Menschen, auch dem allerschlimmsten, dass er seinen Sohn sterben ließ, damit jeder, der es nur will, Vergebung bekommen kann. Glaub es doch, jeder jetzt wieder ganz persönlich für sich: Gott sieht dich nicht bitterböse, sondern freundlich an! Er will auch dir alle Schuld vergeben, auch dich zu seinem Kind erklären, sonst hätte er doch nicht seinen Sohn für dich sterben lassen! Wir können Gott gar nicht genug Gnade, Vergebung und Liebe für unser Leben zutrauen. "Barmherzig, geduldig und gnädig ist er, viel mehr, als ein Vater es kann, er warf unsere Sünden ins äußerste Meer, kommt betet den Ewigen an." Es gilt auch für dich ganz persönlich: Keine Schuld mehr! Keine Sünde! Keine Angst! Keine Sorge! Kein Hass! Keine Verbitterung!

Wenn du das für dich glaubst, dann kannst du auch anderen vergeben. Auch wenn es vielleicht schwer fällt. Nur dann kann ich das weitergeben, was ich selber bekommen habe: Gnade und Vergebung. Du kannst großzügig auf deinen kleinen privaten Jüngsten Tag verzichten.

Wer anderen die Luft zum Atmen gönnt, der kann auch selber ganz neu und frisch durchatmen. Da ist ganz einfach Frischluft da, eine gute frische Atmosphäre, wo die Vergebung Jesus wirksam wird – in meinem Leben und dem des anderen.

Amen