Liebe Gemeinde!
Eine Schulklasse bekommt eines Tages eine neue Lehrerin. Im Rechenunterricht geht es zur Sache. Die Lehrerin schreibt zehn schwierige Aufgaben an die Tafel und holt zehn Kinder nach vorn. Jedes der Kinder soll eine Aufgabe lösen. Wer zuerst fertig ist, soll sich umdrehen, um zu zeigen, wer die oder der Beste ist. Die Kinder rechnen ihre Aufgaben aus. Aber keines dreht sich um. Sie warten, bis auch das letzte Kind seine Aufgabe gelöst hat, und drehen sich alle zusammen um. Die Lehrerin wird ärgerlich. "Ich habe doch gesagt, wer fertig ist, soll sich umdrehen. Versteht ihr das nicht?"
Aber die Kinder erklären ihrer Lehrerin, das wäre doch nicht richtig, wenn eines sich hervortun und die anderen beschämt sein würden.
"Wie sollen wir es denn dann machen?" fragt die Lehrerin. Die Kinder antworten: "Wer gut und schnell rechnen kann, dreht sich nicht um, sondern hilft den anderen, bis alle fertig sind. Und dann drehen wir uns um!"
Eigentlich eine fast unglaubwürdig wirkende Geschichte. Selbstverständlich war das nicht, wie die Schüler sich verhalten haben. Denn der Erste, Beste, Schnellste sein zu wollen, steckt doch zu sehr im Menschen drin. Und jeder geschickte Pädagoge nutzt auch immer wieder dieses Wettbewerbsstreben, um Kinder zu Leistungen anzuspornen.
Leistung ist ja gut. Wir sollten sie nicht verteufeln. Aber die Kehrseite des Leistungsstrebens ist in unserer Gesellschaft ebenso deutlich: Raffen, Gieren, dem anderen nichts gönnen, sich selbst der Nächste sein, dem anderen Steine in den Weg legen, Intrigen, Verleumdungen.
Wir meinen: So ist das Leben. Wer es zu etwas bringen will, der muss so handeln. Aber das ist nicht wahr. "Jetzt geht’s rund!" sagte der Spatz und flog in den Ventilator. So sagen wir Menschen es auch: "Jetzt geht’s rund!" und sind am Ende ganz zerfetzt. Ein egoistisches Leben macht uns kaputt, ein Leben, in dem wir uns nur um uns selber kreisen. Paulus rät uns in unserem Predigtabschnitt etwas ganz anderes: "Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat!" "Lebt in der Liebe", das klingt so wie ein Aufruf zur Mitmenschlichkeit, wie wir ihn oft genug hören. Solche moralischen Appelle nützen im allgemeinen gar nichts.
Als Kinder hatten wir Spielzeuguhren, die mit Zifferblatt und Zeiger fast wie richtige Uhren aussahen; man konnte sie auch stellen und die Zeiger bewegen, aber - sie gingen nicht. Werk und Feder fehlten; es war kein Leben darin, keine bewegende Kraft. Und später lächelten wir bei dem Gedanken, wie ernsthaft wir damit gespielt hatten!
Diese vier Worte "Lebt in der Liebe" gleichen einer solchen Spielzeuguhr. Sie funktioniert nicht. Es reicht eben nicht aus, wenn man den Menschen zur Liebe und Mitmenschlichkeit aufruft. Die Spielzeuguhr geht eben nicht, wenn man ihr nur laut und nachdrücklich genug zuredet: "Du sollst gehen, du musst gehen!" Denn es fehlt das Werk und die Feder.
Die bewegende Kraft liegt in der zweiten Hälfte des Satzes verborgen: " ...wie auch Christus uns geliebt hat." Die erfahrene Liebe Christi ist der Beweggrund für unsere Liebe zu unserem Mitmenschen. Unbegreifliche Liebe hat ihn Mensch werden lassen. Aus Liebe lebte er, der Sohn Gottes, unter einfachen Verhältnissen unter uns. Aus Liebe kam er in den ganzen Dreck und Gemeinheit dieser Welt hinein, um die Verlorenen zu retten. Aus Liebe heilte, segnete, warnte, tröstete, vergab er. Und aus Liebe heraus ging er ans Kreuz, damit uns unsere Schuld vergeben werden kann. Es gibt kein Wort, das zu Jesus besser passen würde als dieses Wort "Liebe".
Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal: "Jesu Liebe, das ist die Liebe, die aus der Ewigkeit kommt und auf die Ewigkeit zielt. Sie hängt nicht an zeitlichen Dingen, sondern sie umfasst uns, weil wir ewig sein sollen. Sie lässt sich durch nichts hindern, sie ist Gottes ewige Treue zu uns. Habt ihr die erfahren? Jesu Liebe, das ist die Liebe, die keinen Schmerz, keinen Verzicht, kein Leiden scheut, wenn es dem andern hilft. Es ist die Liebe, mit er uns um unseretwillen geliebt und daher auf Erden den Spott und Hass der Menschen auf sich geladen hat. Jesu Liebe ist Liebe, die das Kreuz auf sich nimmt."
Das Wunderbare an dieser Liebe ist, dass wir sie jetzt noch, 2000 Jahre, nachdem Jesus auf dieser Erde lebte, erfahren können. Diese Liebe macht uns zu Gottes Kindern und kann unser ganzes Leben verändern, unsere Einstellung zu Gott und zu unserem Mitmenschen. Diese Liebe wird uns auch heute morgen angeboten.: Gott liebt uns, trotz unserer Sünde und Schuld! Wir dürfen diese Worte ganz persönlich für uns annehmen und glauben. Dann sind wir Gottes Kinder.
Ein Kind Gottes bin ich nicht dadurch, dass ich den Pfarrer gut kenne, oder weil ich ein anständiger Mensch bin, oder weil ich aus einer frommen Familie komme und in die Kirche gehe. - Dadurch werde ich ja auch kein Auto, wenn ich in einer Garage aufgewachsen bin! - Nur dann kann ich mich ein Kind Gottes nennen, wenn ich mit dem Sohn Gottes im Glauben verbunden bin. Man kann es nur als eine große Tragödie bezeichnen, wenn jemand von Kindheit an bis ins hohe Alter sich am Leben einer christlichen Gemeinde beteiligt hat und kennt Gott doch nicht vom persönlichen Erleben. Dabei ist ihm jeden Sonntag Vergebung angeboten worden, ein neues Leben aus Gott, und er hat es nie in Anspruch genommen!
Heute wird uns angeboten, dass wir neu anfangen können. Vergebung, Gotteskindschaft, wird uns angeboten. Heute neu dürfen wir hören: Gott liebt uns bedingungslos. Wir brauchen und können nichts dazu tun, um uns seine Liebe zu verdienen. Wir brauchen sie uns nur im Glauben zu nehmen.
Ein geliebtes Kind Gottes zu sein, eine schönere Anrede kann ich mir nicht vorstellen. Eine größere Würde kann man einem Menschen nicht zusprechen. Mehr als alle Titel dieser Welt nützt mir dieser eine: Kind Gottes. Denn ihm steht die ganze Zuwendung, die ganze Liebe seines himmlischen Vaters zur Verfügung. Das kann mich ganz geborgen machen, das kann mein Leben verändern, wenn ich weiß: Ich bin von Gott bedingungslos geliebt.
Ich las einmal folgende Geschichte: In Florenz plante Furbelone, der Leiter einer Terrorgruppe, der Roten Brigade, einen Banküberfall. Alles war mit etlichen Helfern genau durchgeplant. Furbelone selber saß als Bettler verkleidet auf den Stufen der gegenüberliegenden Kirche, um von dort das Einsatzzeichen für die gesamte Aktion zu geben. Gerade, als der Überfall beginnen sollte, kam eine Mutter mit ihrem kleinen Mädchen an der Hand die Treppe zur Kirche herauf, um mit dem Kind in der Kirche zu beten. Das Mädchen sah den Bettler und gab ihm ihr Pausenbrot mit einem liebevollen Blick. Verärgert wollte Furbelone das Mädchen übersehen, aber ihr kindlicher Blick und die barmherzige Geste überwanden den harten Verbrecher. Ganz tief empfand er, dass hier ein Mensch ist, der ihn mit den Augen der Liebe sieht. Anstatt das Signal zum Raubüberfall zu geben, nahm der Terrorist das Brot von dem kleinen lächelnden Mädchen und ging mit ihr in die Kirche. Sein Verbrecherleben war zu Ende.
Wenn nun schon die liebevolle Tat eines kleinen Mädchens einen Menschen so verändern kann, wieviel mehr kann dann die Liebe Gottes in einem Leben bewirken!
Wie reich ist ein Mensch, wenn er weiß, dass er Gottes geliebtes Kind ist! Die Verbindung mit Jesus Christus bleibt nicht ohne Auswirkungen. Als von Gott Geliebte führen Christen ihr Leben im Wirkungs- und Machtbereich des lebendigen Gottes.
Das heißt nun nicht, dass ein Christ ein perfekter Mensch ohne Sünde ist. Ganz gewiss nicht. Aber er hat eine andere Einstellung. Bei einem Menschen, der ohne Christus lebt, geschieht das Sündigen gewissermaßen fahrplanmäßig. Es gehört zum Leben dazu. Aber wenn ich die Liebe Jesu erfahren habe, ist Sündigen ein Eisenbahnunglück. Es ist nicht mehr normal, gehört nicht zum Christsein dazu. Ein Christ kann sich nie mit der Sünde abfinden. Er versucht sie zu vermeiden, wo es nur geht. Und wenn er trotzdem Sünde begeht, dann tut es ihm leid, und er bittet Gott um Vergebung und um die Kraft, in Zukunft anders handeln zu können.
"Lebt in der Liebe!" Diese Aufforderung vom Apostel Paulus kann man also nur so verstehen: "Vergesst nicht, dass ihr Gottes geliebte Kinder seid! Und vergesst nicht, dass ihr diese Liebe auch weitergeben könnt und sollt!" Wenn man die Liebe Gottes mit einem Fünfhunderteuroschein vergleicht, könnte man auch so sagen: Lasst diesen Fünfhunderteuroschein nicht unbeachtet in eurer Hosentasche. Macht in vielmehr zu Kleingeld und gebt ihn an andere weiter.
Wie genau diese Liebe weiterzugeben ist, vom Kleingeld gewissermaßen, davon redet Paulus hier sehr deutlich.
Er spricht drei wichtige Bereiche an: den Umgang mit unserem Eigentum, mit unserer Sexualität und mit unseren Worten. Oder anders ausgedrückt: Es geht um die drei Gebote "Du sollst nicht stehlen!", "Du sollst nicht ehebrechen!" und "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden!".
Liebe kann nicht am Geldbeutel aufhören. Wenn ein anderer Mensch in Not ist, vor allen Dingen ein Mitchrist, meine finanzielle Hilfe braucht, kann ich sie ihm nicht versagen. Sparsamkeit ist sicher eine Tugend. Aber von da aus ist der Weg nicht weit zum Geiz. Wenn ein Christ reich geworden ist, dann muss er aufpassen, dass ihn sein Geld nicht zum Abgott wird.
Ein Mann hatte in seiner Gier nach Geld einen großen Goldschatz erworben und ihn in seinem Garten vergraben. Jede Woche grub er nachts das Loch auf und berauschte sich am Anblick seines Vermögens. Irgendwann muss ihn dabei jemand beobachtet haben. Denn als der Geizhals das nächste mal seinen Garten aufgrub, um den Goldschatz zu betrachten, fand er nur das leere Loch. Der Schatz war weg, offensichtlich gestohlen. Vor lauter Schmerz und Wut schrie der Mann, heulte und jammerte. Als die Nachbarn zusammenliefen, klagte er ihnen seinen Verlust. Einer der Nachbarn fragte den Mann, ob er denn das Geld zu etwas gebraucht hätte. "Nein", sagte der Mann, "Ich wollte es nur jede Woche ansehen und mich daran freuen!" "Wenn du das Gold gar nicht gebraucht hast, dann kannst du ebenso gut jede Woche das leere Loch anschauen! Das macht doch keinen Unterschied!" Hat der Nachbar nicht recht? Haben nur um des Habens willen nennt Paulus hier Götzendienst.
Weiter warnt der Apostel die Epheser vor der Unzucht und Unreinheit. Damals, zur Zeit des Paulus bestand auf diesem Gebiet höchste Ansteckungsgefahr. D.h., es war für die Epheser nicht einfach, sich von der leichtlebigen Moral ihrer Umgebung nicht anstecken zu lassen. Und heute ist es wieder genauso. Aufreizende Bilder in bestimmten Fernsehsendungen, Plakaten und Zeitschriften wollen unsere Aufmerksamkeit und verderben unsere Phantasie, wenn wir nicht wegschauen, umblättern oder den Ausschalte- oder Umschalteknopf an der Fernbedienung betätigen.
Ebenso ist es unmöglich, so warnt Paulus die Epheser und auch uns, dass ihr euch weder mit Worten noch mit Taten an der sexuellen Freizügigkeit eurer Zeit beteiligt. Von einer sogenannten Moral, der es nur um Lustgewinn und Triebbefriedigung geht, sollten sich Christen deutlich absetzen. Denn hinter der Freizügigkeit der damaligen und heutigen Zeit steht nur sexuelle Habgier, d.h. purer Egoismus.
Der letzte Punkt, den Paulus anspricht, ist der Umgang mit unseren Worten. Klatsch verbreiten, Verdächtigungen ausstreuen, hintenherumreden und andere verurteilen, ist unter den Menschen gang und gäbe. Aber es ist schlimm, wenn solches Verhalten Eingang in christliche Kreise findet. Es ist schlimm, wenn ein Kind Gottes auch an solchen Verhalten sich beteiligt. Denn ein Christ hat ja erlebt, dass Gott mit ihm anders umgegangen ist. Gott hat ihn nicht verurteilt, sondern freigesprochen, er hat keine bösen Worte von ihm gehört sondern das gute Wort der Vergebung. Wie kann er dann noch hochmütig über andere sich erheben und sie lieblos aburteilen? Das ist doch eigentlich undenkbar und geschieht doch leider sehr häufig.
Jesus sagt in der Bergpredigt: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Maß ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden."
Denken wir an das Gleichnis von dem Minister, das Jesus einmal erzählt hat. Diesem wird von seinem König eine riesengroße Schuld erlassen, umgerechnet mehrere Millionen Euro. Aber er ist nicht bereit, seinem Ministerkollegen eine kleine Schuld, einen Euro, zu erlassen. Als der König von diesem skandalösen Verhalten erfährt, macht er die Vergebung rückgängig und der Minister wird trotzdem noch ins Gefängnis geworfen.
Wenn wir uns unbarmherzig unserm Nächsten gegenüber verhalten, dann wartet auch auf uns ein unbarmherziges Urteil von Gott aus.
An diesen drei Punkten, dem Umgang mit unserem Eigentum, mit unserer Sexualität und unseren Worten macht Paulus Liebe konkret. In der Woche, die vor uns liegt, haben wir jeden Tag neu die Chance, die Liebe Christi zu erfahren und weiterzugeben, von ihr zu leben und in ihr zu leben. Eigentlich eine schöne Aufgabe: Als Reichbeschenkte andere auch reich zu machen.
Amen