Liebe Gemeinde!
Vielleicht kennen Sie noch jene niedlichen Figuren, die unter dem Motto „Liebe ist, wenn...“ vor einigen Jahren für Schmunzeln und Heiterkeit sorgten. Da konnte man zum Beispiel lesen: „Liebe ist, wenn man die Zahnpastatube von hinten leer drückt.“ Und auf dem Bild sieht man eine völlig zerquetschte Tube in der Hand einer selig strahlenden Figur. Oder „Liebe ist, die Schmerzen zu teilen, weil sie weiß, wie sehr Männer leiden können.“ Und daneben sieht man ein Weiblein, das ein Männlein mit einer dicken Backe tröstet.
Ich merke es an Ihrer Reaktion, an Ihrem Schmunzeln, solche Beschreibungen von Liebe sprechen uns an, rühren uns an. Liebe, das sind eben keine Allgemeinplätze, keine großen Worte sondern man erkennt sie in oft unscheinbaren Situationen. Liebe zeigt sich in den kleinen Dingen des Alltags, wie beim Zahnpastaausdrücken oder im Trost bei Schmerzen. Liebe, das ist ein Händedruck, eine Umarmung oder praktische Handreichungen, wenn jemand Hilfe braucht.
Wenn nun in unserem Predigtabschnitt der Apostel Johannes davon spricht, dass wir einander lieb haben sollen, dann versteht er das ganz konkret, auch und gerade, wenn er von der Liebe Gottes zu uns spricht. Diese Liebe Gottes ist nicht eine bloße Behauptung, kein leeres Wort oder ein philosophischer Begriff. Sondern sie ist ganz konkret geworden. Sie ist Mensch geworden in Jesus Christus. Das Evangelium, das Johannes schrieb, bietet das beste Anschauungsmaterial von dieser konkreten, Mensch gewordenen Liebe.
Da erzählt Johannes von einer Frau. Man hat sie beim Ehebruch ertappt und will sie steinigen. Man zerrt sie vorher noch zu Jesus. Er verurteilt sie nicht. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“, entscheidet Jesus. Diese Worte treffen. Einer nach dem anderen schleicht sich weg. Nur die Frau bleibt da. Jesus schickt sie wieder zu ihrem Mann zurück. Die Worte, die sie hörte, werden sie ihr Leben lang begleitet haben: „So verurteile ich dich auch nicht. Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Liebe, so hat es hier diese Frau erfahren, war ein mutiges Wort, das ihr das Leben rettete, war Vergebung, die Chance zum Neuanfang.
Dann erzählt Johannes vom letzten Abend, den die Jünger mit Jesus verbracht haben. Es war eine gemütliche, vertraute Runde. Der Tag war heiß gewesen, die Straßen staubig und die Füße waren dabei schmutzig geworden. Und niemand ist da, der sie hätte waschen können. Wer macht das auch gern, wenn man auf Feiern eingestellt ist! Füße waschen ist Sklavenarbeit. Und Sklaven sind keine da. Vielleicht denken die Jünger: Soll doch ein anderer diese Drecksarbeit machen. Ich nicht! Und dann steht er plötzlich auf, - Jesus , ihr Herr. Auf einmal hat er einen Arbeitskittel an. Er schleppt Wasser herbei und gießt es in das bereitstehende Becken. Und dann fängt er an, einem nach dem anderen die Füße zu waschen. Seine Liebe kennt keine Grenzen. Auch vor den stinkenden Füßen von 12 Männern macht sie nicht halt. Gottes Liebe kommt ihnen buchstäblich hautnah.
Am nächsten Tag hängt diese Person gewordene Liebe Gottes am Kreuz, zerschunden, fast schon vorher zu Tode geprügelt. Und doch sieht Jesus unter dem Kreuz seine Mutter und seinen Jünger Johannes und weist sie in Liebe zueinander: „Das ist dein Sohn. – Das ist deine Mutter.“
Dort am Kreuz hat Jesus sich zu Tode geliebt, für uns, für dich und mich, damit uns unsere Sünde vergeben werden kann. Diese vergebende Liebe soll auch nicht nur ein Wort bleiben, eine hohle Phrase, die uns nicht weiter bewegt. Sondern sie will auch in unserem Leben ganz konkret werden.
Unsere Sünde ist ja auch ganz konkret. Sie zeigt sich ebenfalls wie die Liebe in den kleinen Dingen des Alltags. Da fährt vielleicht der Ehemann die Frau an, oder der Sohn die Mutter, nur weil er mit schlechter Laune nach hause kommt. Da ist man doch nicht nur „schlecht drauf“ sondern da sind böse Worte gefallen. Und diese Worte zerstören. Da bleiben Verletzungen zurück, und wenn es nur kleine Risse sind.
Da gibt es die kleinen Vergehen, über die man so leicht hinweggeht. Einen Kaugummi im Laden klauen, es bei der Steuererklärung nicht so genau nehmen. Auch wenn es nur um Kleinigkeiten geht: Es steht doch in der Bibel das Gebot „Du sollst nicht stehlen“.
Oder da ist der alltägliche Klatsch und Tratsch unter Freunden: Es fallen verächtliche Worte, ein überlegenes Lächeln, eine abfällige Handbewegung über Dritte. Kleinigkeiten, aber doch ein Verstoß gegen die Liebe. So konkret ist also unsere Sünde.
Genau so konkret will auch die vergebende Liebe Gottes in unser Leben kommen. Jesus macht es so leicht. Wir dürfen zu ihm kommen, im Bekenntnis unserer Schuld, und er spricht uns frei. Aber kommen müssen wir.
Ich denke an „Peer Gynt“, dieses Drama von Ibsen, das ich letztes Jahr auf der Luisenburg gesehen habe. Peer Gynt ist ein wilder Bursche, der mit seinen Raufereien und Abenteuern alle gegen sich aufbringt. Nur das Mädchen Solvejg liebt ihn. Aber er verrät ihre Liebe und verlässt sie und seine Heimat. Auf abenteuerliche Weise schlägt er sich in der Welt herum.
Als alter Mann kehrt er in seine Heimat zurück. Und endlich ganz zum Schluss seines Lebens findet Peer Gynt die Kraft, „mittendurch“ und nicht mehr „drumherum“ zu gehen. Er tritt Solvejg gegenüber, die ihr ganzes Leben auf ihn gewartet hat und bekennt ihr alle seine Verfehlungen. Lug und Trug, Mord und Totschlag, List und Gemeinheit, Brutalität und Egoismus. Das schreckliche Übermaß seiner Schuld kann Solvejg nicht schrecken. Sie ist glücklich, dass Peer Gynt endlich zurückgekehrt ist. Und er fragt sie ungläubig: „Weißt du, wo ich all die Jahre wirklich war?“ Sie aber antwortet: „Du warst immer in meiner Liebe!“
Wer immer den Mut hat, nicht mehr drumherum sondern mittendurch zu Gott zu gehen mit all seiner Schuld und Last, dem wird Gott auch sagen: „Du warst immer in meiner Liebe.“ Wenn wir aus Schuld und Dreck wie der verlorene Sohn zu seinem Vater zu Gott kommen, dann wartet immer Liebe auf uns, kein Vorwurf, kein Zurückstoßen. Wer immer dieses „Vater, ich habe gesündigt“ über die Lippen bringt, zu dem spricht er: „Mein liebes Kind!“
So eine Liebe lässt nicht kalt. Sondern sie bewegt und verändert. Und dem Nächsten gegenüber kann es sich zeigen, dass etwas anders geworden ist.
Wir können die Liebe, die wir von Gott empfangen haben, weitergeben. Ein wunderschönes Beispiel ist der Klosterbrunnen im Zisterzienserkloster Maulbronn. Es ist ein dreischaliger Brunnen. Das Wasser steigt aus der Tiefe hoch und fällt in die oberste Schale. Ist diese überfließend gefüllt, fällt das Wasser in die nächste, größere Schale. Schließlich fließt der Quell in die dritte, noch größere Brunnenschale ganz unten.
So ist es mit der Liebe Gottes. Sie ist immer in Bewegung von oben unten, von Gott zu den Menschen. Zuerst erreicht sie uns, dann kann sie von uns zum Nächsten fließen, der sie wiederum weitergeben kann.
Ich denke an eine Gruppe von Christen, die eine Prostituierte in einem erbarmungswürdigen Zustand zu sich nach hause einluden, damit sie sich dort aufwärmen und etwas zu essen bekommen konnte. Als sie das Haus betreten hatte, sagte sie: „Ihr seid Christen, oder? Ich weiß, dass ihr Christen seid, weil ihr strahlt. Ich war auch einmal so in Jesus verliebt und damals habe ich wie Diamanten am Himmel gestrahlt, wie die Sterne. Aber die Welt ist kalt und dunkel und ich habe meinen Glanz verloren, schon vor langer Zeit.“ Sie bat die Christen, mit ihr zu beten, dass sie eines Tages wieder strahlen würde, was sie auch taten.
Tage und Wochen vergingen. Eines Tages klopfte es an der Tür. Einer der Christen öffnete. Auf den Stufen stand eine entzückende Dame mit einem ansteckenden Lächeln, das bis über beide Ohren reichte. Sie merkte, dass sie nicht wieder erkannt wurde und sagte: „Natürlich erkennst du mich nicht. Ich strahle nämlich wieder. Ich strahle.“ Sie erklärte anschließend, wie sehr sie sich wieder in Gott verliebt hatte und deshalb anders geworden war.
Es wäre jammerschade, wenn das, was wir eben von der Liebe Gottes zu uns gehört haben, doch nur fromme Worte blieben, die in uns nichts verändern würden, wenn diese Liebe von uns nicht zum Nächsten fließt, wenn sie doch nicht konkret wird. Das gibt es tatsächlich. Zu unserer Schande muss dies auch gesagt werden. Aber das liegt nicht daran, weil es diese Liebe Gottes nicht gäbe oder nicht erfahrbar wäre. Sondern es hat in der Regel einen anderen Grund: Diese Liebe ist irgendwo ins Stocken geraten. Vielleicht kam sie gar nicht bis zu uns, weil wir es gar nicht glauben konnten, dass uns alle unsere Schuld vergeben ist. Dann möchte ich es noch einmal sagen, bis es hoffentlich jeder begreift: Du bist geliebt, ganz gewiss, mehr als du ahnst! Sperr dich nicht gegen diese Liebe!
Luther schreibt: „Die Liebe Gottes liebt nicht das Liebenswerte. Sie schafft das Liebenswerte.“ Jeder darf es glauben: Ich bin geliebt! - Nimm doch diese Liebe für dich in Anspruch! Sie ist kein Betrug, so wie menschliche Zuneigung oftmals nicht echt ist. Sie wird uns nie enttäuschen!
Vielleicht haben wir diese Liebe noch nicht gespürt, weil uns noch nicht klar geworden ist, wer wir wirklich sind, nämlich ganz und gar liebensunwerte Menschen. Dann muss ich sagen: Du – und ich – wir sind nicht die makellosen Christen, die freundlichen Zeitgenossen, die liebenswerten Nachbarn, Eltern, Kinder, Geschwister, Arbeitskollegen oder Mitschüler, für die wir uns vielleicht halten. Auch wir haben unsere dunklen Seiten, unsere heimlichen oder offenbaren Sünden. Und doch, liebt uns Gott! Gerade dann, wenn wir es merken, spüren wir seine Liebe. Denn er gibt sie denen, die sie brauchen.
Oder vielleicht haben wir diese Liebe nicht weitergegeben, weil wir unseren Nächsten nicht leiden, nicht ertragen können. Dann lass dir auch sagen: Die Schuld des anderen ist nicht größer als deine. Du bist auch nicht besser als er. Und auch dein Nächster, auch wenn er dich nervt, wenn du ihn unsympathisch findest, ist von Gott geliebt und braucht deine Liebe, gerade deine Liebe, sonst hätte ihn dir Gott nicht als Nächsten zur Seite gestellt. Er ist dir gerade deshalb nahe, damit du ihn liebst, - mit der Liebe, du von Gott bekommen hast.
Diese Liebe war gewissermaßen das Markenkennzeichen der ersten Christen. Spöttisch sagte einmal einer ihrer Kritiker: „Sie lieben sich, auch wenn sie sich noch gar nicht kennen.“ In diesem Spott schwang insgeheim eine Anerkennung mit. Diese Liebe der Christen ist etwas ganz Besonderes. Sie ist bedingungslos, voraussetzungslos, eben wie die Liebe Christi.
Diese Liebe gibt unserem Leben Sinn. Es ist nicht entscheidend, ob wir reich und erfolgreich waren, ob andere Menschen uns bewundert oder beneidet haben, ob wir vor Gesundheit und Kraft nur so strotzten oder ob wir schwach und krank waren. Was zählt, ist die Liebe.
Miriam, eine junge Frau, lebte so. Sie war kein Star, ihr Leben war keine Erfolgsstory. Ganz im Gegenteil, sie war mit dem Down – Syndrom behindert. Sie wurde nur 21 Jahre alt. Aber sie hatte intensiv gelebt, mehr als mancher, der sehr alt wurde. Denn sie hatte geliebt.
Auf einem großen Blatt Papier hatte sie – von 35 Herzen umrahmt – die Summe ihres Lebens aufgeschrieben: NUR DIE LIEBE ZÄHLT! Miriam schrieb mitten in die Herzen die Personen, denen ihre Liebe galt, ihren Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern. Sie war ein krankes Kind und starb früh an einer Infektion, aber sie war ein Gotteskind und lebt nun ewig mit Jesus.
Hunderte Menschen zeigten bei der Trauerfeier, wie sehr sie Miriam in ihr Herz geschlossen, wie viel sie von ihr empfangen und wie viel sie mit ihr verloren hatten.
Sie ist nun am Ziel ihres Lebens. Und wir müssen schauen, dass wir es nicht verfehlen: „Nur die Liebe zählt!“
Ich denke auch an Mutter Teresa, die in diesen Tagen vor 100 Jahren geboren wurde. Sie lebte in Kalkutta und kümmerte sich um die Ärmsten der Armen, um die sich sonst keiner mehr kümmerte, die Leprakranken, die Hungernden, die Sterbenden. In einem Interview fragte man sie: „Was werden Sie Jesus sagen, wenn Sie in den Himmel kommen?“ „Ich liebe dich und danke dir, dass du mich gebraucht hast", antwortete die 84jährige kleine Frau und ergänzt: ... "das beste, was mir auf dieser Erde passieren konnte."
Das ist das Beste, was auch dir auf dieser Erde passieren kann: Dass du der Liebe Jesu begegnest, dass du ihn deshalb auch liebst und diese Liebe an andere weitergibst. Es muss nicht Kalkutta sein. Es reicht schon der Ort, wo du wohnst aus, der Platz an dem du arbeitest, die Schule, in die du gehst, die Familie, mit der du zusammenlebst.
In den Himmel hinein kommt nur, was aus ihm herausgekommen ist. Das ist allein die göttliche Liebe. Wir sollen nicht jeden Trag uns gewissermaßen den Puls fühlen und uns fragen, ob und wie viel wir von ihr haben. Wir haben immer zuwenig von ihr. Vielmehr sollen und dürfen wir sie jeden Tag neu suchen. Sie begegnet uns in seinem göttlichen Wort. Nahezu auf jeder Seite der Bibel schlägt sie uns entgegen. In jeder Verkündigung des Evangeliums, der frohen Botschaft von Jesus Christus, finden wir sie. So dürfen wir immer mehr begreifen, wie lieb uns Gott hat. Und dabei selber so lieb werden wie er. Und immer mehr das in uns aufnehmen, was in der Ewigkeit zählt. Seine Liebe.
Amen