Liebe Gemeinde!
Jesus hatte sich zum Beten zurückgezogen. Die Jünger waren ohne ihn in einem Boot auf dem See Genezareth. Zunächst kamen sie gut voran. Dann erhob sich ein Sturm. Der Wind blies ihnen entgegen.
Gegenwind, - sehr unangenehm. Jeder Radfahrer weiß dies. Bei Rückenwind kommt man gut voran. Man ist sich kaum einer Anstrengung bewusst. Aber bei Gegenwind ist das anders. Man muss mühsam in die Pedale treten, um vorwärts zu kommen. Spätestens wenn einem der Wind den Regen ins Gesicht treibt und man sich eine lang gezogene Steigung hochquälen muss, ist der Spaß vorbei.
Jeder kennt wohl solche Situationen im Gegenwind. Es sind zum Beispiel die Tage, an denen sich alles anscheinend gegen einen verschworen zu haben scheint. Der Wecker hat nicht geklingelt. Man hetzt aus dem Haus, man ist ja schon spät dran. Das Auto springt nicht an oder die Kette aus dem Fahrrad springt raus. Schließlich kommt man mit dem Bus – natürlich zu spät – auf der Arbeit oder in der Schule an. Der Lehrer schreibt eine Ex, mit der man nicht gerechnet hat. Das Projekt, an dem man arbeitet, läuft nicht. Der Chef wird ungeduldig und die Kollegen sind sauer. Beim Mittagessen tropft man sich Ketschup auf die Hose. Genervt kommt man abends nach Hause und entdeckt im Briefkasten eine überhöhte Autorechnung, oder die Mutter hält einem einen Verweis unter die Nase, der heute gekommen ist.
Solche Tage gibt’s, an denen alles schief geht, genauer gesagt sind es viele kleine Dinge. Leben im Gegenwind ist unangenehm. Und wenn sich viele solche Tage aneinanderreihen mit vielen kleinen Widrigkeiten, die einen nerven, dann kann das einen zermürben: Immer wieder die kleinen Sticheleien eines Kollegen, jeden Tag das süffisante Lächeln eines Lehrers, das einem signalisieren soll: „Du kannst nichts, du taugst nichts.“ Permanente kleine Unannehmlichkeiten können unangenehmer sein als sporadische große Krisensituationen.
Ein Extremsportler hatte zu Fuß den amerikanischen Kontinent durchquert. Er wurde gefragt, was das Schwierigste bei seinem Lauf war. Was würde er sagen? Heiße Sonnentage, plötzliche Regengüsse, eine Schwächeperiode? Nein, es waren die paar Sandkörner, die immer wieder in seine Schuhe hineinkamen und an seinen Füßen scheuerten.
Leben im Gegenwind, das kann auch Leben im Sturm sein, wenn es richtig knüppeldick kommt. Das kann im Sprechzimmer sein, wenn der Arzt tief Luft holt und sagt: „Jetzt setzen Sie sich erst einmal.“ , eine verhauene Klausur, die das Ende eines Studiums bedeutet, der Satz eines Chefs: „Wir haben für sie leider keine Verwendung mehr.“ , oder der eines Mädchens: „Natürlich bleiben wir gute Freunde. Aber...“ , oder der des Ehemannes: „Ich ziehe jetzt aus.“
Wir alle kennen wohl solche Lagen, in denen es einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Und man weiß nicht, wie es weiter geht. Und Gott? Wo ist er? Er scheint ganz weit weg zu sein und sich nicht um einen zu kümmern.
So ähnlich wird wohl auch den Jüngern auf dem See Genezareth zumute gewesen sein. Vor und hinter ihnen das tobende Wasser, unter ihnen die bodenlose Tiefe, über ihnen der dunkle Himmel. Und Jesus war wer weiß wo, nur nicht bei ihnen.
Aber sie hatten sich geirrt. Die Jünger hatten Jesus weit und breit nicht gesehen. Aber er hatte sie in ihrer Not gesehen. Er kam mitten hinein in ihre Angst, Verzweiflung, Ohnmacht und Einsamkeit. Der Sturm konnte ihn nicht hindern, ihnen entgegenzukommen. Entgegen ihrer Erwartung, entgegen aller uns bekannten Naturgesetze kam er auf dem Wasser zu ihnen.
Natürlich kann man sagen: Das ist doch unmöglich. Kein Mensch kann auf dem Wasser laufen.
Und es gibt ja genügend Menschen, die so denken, auch Theologen. Der kritische Theologe Rudolf Bultmann sagte schon vor Jahrzehnten: "Man kann nicht in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben."
Und wenn diese Geschichte vom sinkenden Petrus einen Sinn hat, dann nur den: "Der Mensch siegt durch Glauben und frischen Mut in den schwierigsten Lagen. Beim geringsten Zweifel ist er sofort verloren." So hat der alte Goethe gemeint.
Und es klingt ganz ähnlich, was 150 Jahre später der bekannte Theologe Eugen Drewermann sagt: "Der Sinn des Seewandels - über seine eigene Angst hinweggehen."
Verschiedene psychologische Ratgeber sagen das Gleiche: Vertraue dir selbst! Denke positiv!
Nun gibt es bestimmt Lagen, in denen solche Ratschläge durchaus hilfreich sein können. Aber es gibt Nöte, da wirken solche Sätze wie : "Denke positiv! Vertraue dir selbst!" wie der blanke Hohn. Das ist die Erfahrung der persönlichen Schuld und die Begegnung mit dem Tod. Wenn ich in Todesgefahr oder sterbenskrank bin, dann nützt mir all mein Selbstvertrauen und positives Denken nichts mehr. Und wenn ich Schuld auf mich geladen habe oder mich in Süchten verstrickt habe, dann kann ich mir zwar vormachen: "Ist alles halb so schlimm", aber mir wird dadurch nicht geholfen. In solchen Lagen ist es entscheidend wichtig, ob es wirklich jemanden gibt, der in allen Nöten, in Schuld, ja sogar im Tod hilft.
Legenden und Mythen helfen uns, wenn's drauf ankommt, nicht. Und wenn die Geschichte vom Seewandel nicht stimmt, wieso sollte mich Jesus aus meinen aktuellen Schwierigkeiten herausziehen können?
Ich persönlich halte mich lieber an die Worte des großen Theologen Karl Barth: „Man wird es Gott erlauben müssen, an den uns bekannten Gesetzen unter Umständen rücksichtslos vorbeizugehen.“ Warum? Weil ich ein grundsätzliches Vertrauen zu den Geschichten der Bibel habe. Die sie geschrieben haben, legten Wert darauf, dass sie keine Märchenerzähler sondern Berichterstatter von stattgefundenen Ereignissen sind. Fast beschwörend wendet sich zum Beispiel der Apostel Petrus einmal an seine Leser: „Wir haben euch keine schönen Märchen erzählt.“ (2. Petrus 1,16, „Hoffnung für alle“)
Und der andere Grund lautet. Ich selber habe immer wieder die Macht Gottes in meinem Leben erfahren und von anderen gläubigen Christen phantastisch klingende Geschichten gehört. Auf Gebete hin sind Kranke gesund geworden, scheinbar aussichtslose Lagen haben sich zum Guten gewendet, Menschen sind durch den Glauben an Jesus von Süchten wie Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit frei geworden. Worte der Bibel oder Verse von Glaubensliedern sprachen in bestimmten Situationen direkt zu einem, trösteten, gaben neue Kraft, versprachen Hilfe, die dann tatsächlich eintrat. Das alles sind Lebenszeichen eines auferstandenen Christus, der heute noch zu einem redet und dem nichts unmöglich ist. So wie damals auf dem See Genezareth kann Jesus heute noch einem verzagten Menschen zurufen: „Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!“ Dann kann ebenfalls die Macht der Angst weichen. Stattdessen kann einen der Glaube tragen: Jesus ist da, der die Situation im Griff hat – und sie auch verändern kann.
2. Teil
Auch Petrus war nun nicht mehr verzagt, als er Jesus erkannte. Ganz im Gegenteil. Er wollte zu seinen Herrn kommen, übers Wasser. Auf so eine Idee konnte auch nur Petrus kommen. Denn er war ein waghalsiger Typ, der kein Risiko scheute, sehr temperamentvoll und immer vornedran, wenn es was zu tun gab.
Es gibt solche Menschen. Israelische Wissenschaftler haben sogar herausgefunden, dass sie ein besonderes Gen in sich tragen, eine verlängerte Version des Gens D4DR. Ich gehöre nicht zu solchen Menschen.
Wer an Jesus glaubt, der darf auch einmal etwas riskieren. Und vielleicht tut sich dabei einer leichter, der risikofreudig als einer, der ein besonnener Typ ist. Aber Matthäus stellt hier in dieser Geschichte nicht die Risikofreude von Petrus als Vorbild hin sondern seinen Gehorsam. Er verlässt ja nicht aus eigenem Antrieb das Boot. Das wäre schief gegangen. Sondern er wagt es nur deshalb, weil Jesus ihn ruft. „Komm her!“ so befiehlt Jesus ihm. Wenn Jesus etwas anordnet, dann kann man es wagen. Dann wird sogar eine schwankende Wasseroberfläche zu einem festen Untergrund. So erlebte es Jesus. Es gelang ihm das Unmögliche. Er konnte auf dem Wasser laufen, solange er seinen Blick fest auf Jesus richtete und nicht auf die unruhigen Wellen.
Auch wir können mit Jesus Unmögliches tun, solange wir nur ihm und seinen Zusagen vertrauen, solange wir Glauben für den nächsten Schritt haben.
Vor kurzem sah ich einen Ausschnitt des Filmes „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“. Der Held musste drei Prüfungen absolvieren, um den heiligen Gral zu finden und seinen sterbenden Vater zu retten. Die dritte Prüfung „Der Pfad Gottes“ ist die schwierigste. Indiana Jones kommt an den Rand eines Abgrunds, der ungefähr 30 Meter breit ist und Schwindel erregend tief hinuntergeht. Auf der anderen Seite befindet sich der Heilige Gral. Die Anweisung lautet: Er soll den Schritt über den Rand des Abgrundes hinaus wagen. „Unmöglich!“, sagt sich Indiana Jones. Sein Vater ruft ihm zu: „Du musst glauben, mein Junge, glaube ganz fest.“ Und obwohl jede Faser seines Körpers schreit: „Tu’s nicht!“ wagt er den Schritt über den Abgrund. Er stürzt nicht in den Tod sondern wie aus dem Nichts entsteht eine Brücke, auf die er über den Abgrund gehen kann.
Al sich diese Szene sah, dachte ich: So ist das wirklich mit dem Glauben. Wenn das Wort Gottes mir etwas befiehlt, dann kann ich es wagen, auch wenn die Angst mir etwas anderes rät. Ich werde Wunder erleben. Allerdings: Wenn ich das Wagnis nicht eingehe, passiert auch nichts.
Aber wenn Gott mir durch sein Wort etwas zusagt, dann darf ich diesem Wort auch absolut vertrauen. Dann brauche ich nicht zu zweifeln, sondern nur das tun, was es mir sagt.
Petrus geht das Wagnis des Glaubens ein. Eine Zeitlang funktioniert alles gut, bis er seinen Blick nicht mehr auf Jesus richtete sondern auf die Wellen, die sich vor ihm auftürmten. Da schwand sein Glaube und er drohte unterzugehen.
Glauben heißt, eine bestimmte Blickrichtung zu haben, nämlich auf Jesus und sein Wort. Der falsche Blick ist der Blick auf die Möglichkeiten: Was ist, wenn ich doch nicht gesund werde, wenn ich meine Prüfung doch nicht bestehen würde, wenn ich von meinen Süchten und meinen Abhängigkeiten doch nicht frei werden würde?
Wenn ich so denke, dann gehe ich unter wie Petrus. Doch selbst dann brauche ich nicht zu verzweifeln. Jesus hat den Petrus wieder rausgezogen. Er lässt auch uns nicht im Stich, wenn wir im Glauben versagen. Sondern er gibt uns immer neue Chancen zum Glauben. Seine Hand lässt uns nicht los, auch wenn wir sie einmal loslassen sollten. Selbst wenn wir nur noch einen kümmerlichen Restglauben haben, der nur noch sagen kann: "Herr, hilf mir!" dann zieht er uns wieder hoch.
Hartmut Bärend erzählt, wie er mit seinem Bruder einmal zusammen saß und über seinen Problemen brütete. Als er so seinen Gedanken nachhing, sank sein Kopf immer weiter nach unten, auf die Tischplatte zu. Da tat sein Bruder etwas Ungewöhnliches: Er hat einen Daumen unter sein Kinn gelegt und den Kopf hoch gehoben.
Er war in der gleichen Lage wie der sinkende Petrus. Seine Sorgen wollten ihn gefangen nehmen. Der Blick war nach unten gerichtet. Der Kopf wurde mit gezogen.
Kennen wir das auch? Probleme auf der Arbeit oder in der Schule, Ärger mit den Eltern, den Geschwistern, dem Ehepartner, Streit mit Freunden? Da sinkt der Mut schnell. Zweifel melden sich. Angst kommt hoch.
In solchen Situationen dürfen wir wie Petrus rufen: „Herr, rette mich!“ Und Jesus streckt dann auch seine Hand aus und packt uns.
Denken wir an den Daumen unter dem Kinn. Wir brauchen den Kopf nicht hängen lassen. Ich muss mit meinen Ängsten und Sorgen nicht alleine bleiben. Ich muss sie auch nicht betäuben mit Alkohol, Musik oder anderen Medienkonsum. Einer ist da, der über mich wacht. Der zieht mich wieder hoch. Der holt mich aus allem raus, was mich runterziehen will. Ihm kann ich alles sagen, was mir zu schwer ist. Er zeigt mir, wie ich meinen Lebensweg weitergehen kann.
Einem Mann wie Josua hat Gott in einer schwierigen Situation mit den Worten Mut gemacht: „Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist.“ Diese Zusage gilt auch heute noch. Sei getrost und unverzagt! Jesus, der Herr, ist immer noch stärker!
Amen