Liebe Gemeinde!
Draußen im Treppenaufgang hängt ein Kruzifix. Wir nehmen es wohl kaum mehr wahr, wenn wir in die Kirche gehen. Ein Kruzifix ist ja schließlich nichts Besonderes. Kruzifixe und Bilder vom Gekreuzigten. Wir haben sie alle schon einmal gesehen und uns daran gewöhnt.
Bei Kindern ist das noch anders. Wenn sie das erste Mal Bilder vom Gekreuzigten sehen, kann man immer wieder ähnliche Reaktionen beobachten. Abscheu und Entsetzen werden laut. Ich hörte Äußerungen wie: "Ich kann gar nicht mehr hinschauen". Oder: "Mir wird schlecht." Kinder empfinden oft noch das Schockierende beim Anblick des Gekreuzigten. Er ist ein Bild des Elends. Es ist normal, wenn unsere Augen sich vom Bild des Kreuzes abwenden möchten, bevor es einem schlecht wird.
Jesaja hat hier in unserem Predigtabschnitt das Leiden und Sterben des Messias vorhergesehen, viele Jahrhunderte vor der Kreuzigung Jesu. Auch hier lesen wir als Reaktion auf den Anblick des leidenden Gottesknechtes: "Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg."
Der gekreuzigte Jesus bietet keinen heldenhaften Anblick. Sondern er ist das Gegenteil von dem, wie man sich einen Helden vorstellt, das Gegenteil eines photogenen Stars. Ich denke, deshalb können auch viele Menschen so wenig mit Karfreitag anfangen. Denn heute steht einer im Mittelpunkt, der so gar nicht zu uns zu passen scheint. Andere Bilder vom Menschen sind uns lieber. Sie müssen schön sein. Titelbilder von Illustrierten zieren meist Bilder von schönen Frauen. Je schöner und berühmter, desto größer die Auflage. Hübsche Kinder sind meist beliebter als solche mit einem unangenehmen Äußeren. Wir machen uns schön, so gut es geht, gerade in der heutigen Zeit, in der man so viel Wert auf das äußere Erscheinungsbild legt.
Der Mensch muss stark sein. Sportstars und Filmhelden sind die Idole unserer Welt. Aber mit Kranken und Sterbenden möchte man möglichst wenig zu tun haben. Wir müssen uns oft überwinden, Kranke oder gar Sterbende zu besuchen, und sind froh, wenn wir das Krankenzimmer wieder verlassen können. Mit Leid möchten wir von Natur aus nichts zu tun haben.
Dann muss der Mensch mächtig sein. Politiker, Industrielle und andere einflussreiche Leute beherrschen die Schlagzeilen der Weltpresse. Aber wenn sie keine Macht mehr haben, sind sie schnell vergessen.
Wir alle wollen schön, stark und mächtig sein. Wir wollen etwas darstellen und bedeuten. Nur, wer sind wir wirklich? Wissen wir, wie wir wirklich sind? Haben wir den Mut, uns einmal zu sehen, wie wir wirklich sind? Uns nicht so zu sehen, wie die anderen uns haben wollen, wie die Familie, unsere Bekannten, sondern wie wir sind?
Wenn ich nach Golgatha komme, sehe ich mich selbst. Dort ist das Elend der Welt auf engstem Raum zusammengepresst, an einem Kreuz.
Sehen wir uns einmal die Hände an, die da durchbohrt sind, die Hände Jesu. Was haben wir Menschen nicht alles schon mit unseren Händen fertiggebracht! Mit Händen werden Kriege gemacht. Man nimmt sein Gewehr, lädt es und drückt ab - mit Händen! Der Knopf, der die Atombombe auslöst, wird mit Händen bedient. Mit Händen werden Embryos abgetrieben. Mit Händen andere Menschen verführt. Mit Gesten von Händen werden andere verächtlich gemacht. Hände schreiben Briefe, um andere fertigzumachen oder zu belügen. Haben wir schon einmal darüber nachgedacht, was wir schon alles mit unseren Händen getan haben? Haben wir den Mut, über unsere Hände nachzudenken?
Als Gott sah, welche Schuld wir Menschen durch unsere Hände auf uns geladen haben, hat er seinen Sohn in diese Welt geschickt. Er hat den Fluch unserer Hände in die seinen gedrückt und hat seine Hände annageln lassen. Deine Hände, meine Hände wurden nicht getroffen.
Oder sehen wir auf unsere Füße. Haben wir den Mut, über unsere Füße nachzudenken? Wie viele Wege sind sie wohl schon gegangen, deren wir uns nachher schämen mussten? Gott hat alle diese Wege gesehen und hat zu seinem Sohn gesagt: "Mein Sohn, komm du für diese Welt zur Ruhe!" Dann wurden seine Füße ans Kreuz genagelt, und unsere wurden nicht getroffen.
Und schauen wir uns den zerschundenen Leib Jesu an, mit der offenen Wunde an der Seite. Es ist der Leib der Menschheit. Kennen wir die Bilder vom letzten Weltkrieg - von den Konzentrationslagern, von Hiroshima, wie sie dalagen, geschändete und gequälte Leiber von Juden, Soldaten, Frauen und Kindern? Haben wir in der Tagesschau die Elendsgestalten der Hungerlager in der 3. Welt gesehen? Können wir uns vorstellen, wie das ist, wenn der Leib gequält wird von unstillbarem Hunger?
Gott hat das ganze Elend unseres Leibes gesehen und auf seinen Sohn gelegt und zu ihm gesagt: "Trage du das Elend aller Welt an deinem Leibe." Und "fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen."
Und schließlich unser Kopf. Wie stolz sind wir oft gerade auf ihn, auf unsere klugen Gedanken und kühnen Ideen, auf unsere überlegene Kritik! Aber was haben wir nicht schon alles gedacht, von dem wir nachher meinten: Wie gut, dass man in unseren Kopf nicht hineinsehen kann! Wenn die anderen wüssten, wovon wir manchmal träumen! Wenn die wüssten, wie wir uns verstellen können, wie wir nach außen hin freundlich sein und in Wahrheit den anderen zum Teufel schicken könnten! Was ist alles in unserem Kopf, welcher Morast von Neid und Missgunst, Intrigen und Gedankenmorden! Wie viel Gemeinheiten und Boshaftigkeit haben ihren Ursprung in unserem Kopf gehabt!
Unsere Mitmenschen können es bestenfalls ahnen, Gott weiß allerdings sehr genau, was in unseren Köpfen alles schon vorgegangen ist. Da hat nun Gott eine Dornenkrone auf den Kopf seines Sohnes gepresst und damit auf den Verstand der ganzen Welt. Und wir wurden verschont.
Dort am Kreuz ist das ganze Elend von uns Menschen schonungslos dargestellt. Die Sünde der ganzen Menschheit ist auf ihn, auf Jesus konzentriert. Deshalb konnte Luther die schockierenden Worte finden: "Der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Tempelschänder, Lästerer, der durch keine Verbrecher in der Welt je übertroffen wird..." ist Christus.
Deshalb ist das Kreuz Jesu auch unsere große Chance. Denn das Wort vom Kreuz sagt uns: Es gibt jemand, der kennt uns, der kennt unsere Gemeinheiten, Rücksichtslosigkeiten und unsere Lebensangst, - besser als wir selbst. Aber dieser eine, Jesus Christus, wird nicht irre an uns. Wir sind für ihn nicht abstoßend. Sondern er erträgt uns. Er nimmt uns unsere Schuld. Ja, er schlüpft sogar in unsere Haut und übernimmt die Rolle, die eigentlich uns zugedacht wäre.
In einem Glaubenslied heißt es. "Es gibt jemand, der deine Lasten kennt, jemand, der dich sein Kind nennt, ja jemand, der nie dich lässt allein. Denn er trug am Kreuze deine Last, die du selbst verschuldet hast und er wird immer bei dir sein."
Es gibt ja viele Beispiele von Menschen, die mit anderen ihr Leid geteilt, und es sogar stellvertretend auf sich genommen haben. Wir haben vielleicht schon Pater Maximilian Kolpe gehört, der in Auschwitz für einen Familienvater in den Hungerturm und dann auch in den Tod ging. Oder von Janusz Korczak, der freiwillig 200 Waisenkinder in die Gaskammern begleitete, ihnen Märchen erzählte und Lieder anstimmte. Diese Menschen konnten das Leid anderer mitragen, aber das Mitgehen endete bei der Schuld. Kolpe konnte nicht die Schuld des Lagerkommandanten teilen, Korczak nicht die von Hitler.
Dies konnte allein der Sohn Gottes. Was kein anderer tun konnte, tat er. Wie ein Vater für seinen Sohn eintritt, wenn er gescheitert ist, so tritt er für uns ein. Er stirbt, damit wir leben können. Da werden alle harmlosen Vorstellungen von einem "lieben Gott" zerstört. Gott nimmt uns ernst, auch mit unserer Sünde. Er drückt nicht einfach alle beiden Augen zu, als wäre nichts geschehen. Sondern Schuld muss gesühnt werden.
Doch weil Gott nicht will, dass wir die Strafe tragen, die wir verdient hätten, lässt er seinen Sohn sterben - aus Liebe zu uns. Seine Liebe war nicht billig, sondern kostete den höchsten Preis, Gottes eigenen Sohn.
Weil so viel auf dem Spiel stand, deshalb litt und starb Jesus auch so geduldig, "wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird." Er wehrte sich nicht aus Schwächlichkeit, sondern weil er gewiss war, dass sein Leiden Frucht bringen wird. Er soll der Stammvater einer neuen Menschheit werden.
Seit Golgatha bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder unsere Schuld liegt auf dem Lamm Gottes, welches der Sünde trägt, auf Jesus Christus, oder sie liegt auf uns. Entweder wir gehören zu denen, die trotz des Kreuzestodes Jesu immer noch ihre Schuld und ihre Angst und ihre Sorgen mit sich herumschleppen, die vielleicht Sonntag für Sonntag den Gottesdienst besuchen, singen, das Glaubensbekenntnis mitsprechen und doch noch fern von Jesus sind.
Oder wir gehören zu denen, denen einmal mit Schrecken aufgegangen ist: "Eigentlich hätte ja ich damals am Kreuz hängen müssen. Meine Sünde hat den Sohn Gottes umgebracht. Ich hätte dort sterben müssen!"
Denen aber gleichzeitig der Trost aufgegangen ist, der vom Kreuz ausgeht, die gemerkt haben: "Diesem Jesus darf ich all den Müll meines Lebens aufladen. Er ist ja der große Lastenträger Gottes."
Das heißt Christ sein, von ihm getröstet und gereinigt sein, von ihm wieder das Lachen gelernt zu haben, von ihm her einen Weg bekommen, der sich lohnt. Es heißt zu glauben, durch seine Wunden werde ich geheilt.
Unser Leben wird heil, wenn wir an den Gekreuzigten glauben. Es kann einer großen Kummer haben, es mag einer in tiefe Schuld gefallen sein, er mag an seine Sünden gefesselt sein und von ihnen nicht loskommen. Wenn er an Jesus glaubt, ist er davon frei. Jesus hat ja all das getragen, was ihn belastet, er braucht es also nur noch zu glauben, dass diese Lasten ihn nicht mehr niederdrücken müssen.
Eine ältere Dame fuhr das erste Mal in ihrem Leben mit einem Aufzug. Links und rechts trug sie zwei schwere Taschen. Ein Mitfahrer sagte zu ihr freundlich: "Sie können ihre Taschen ruhig abstellen. Der Fahrstuhl trägt auch sie." Etwas beschämt aber doch dankbar stellt die Dame ihre Taschen ab.
Auch wir dürfen alle Lasten bei Jesus abstellen, alles Gepäck von Sünde, Sorgen, Ängsten, Schwierigkeiten. Er trägt alles für uns. Es ist ungeheuer tröstlich und befreiend, wenn ich es geglaubt und dann auch erfahren habe: Diesem Jesus darf ich alle Lasten meines Lebens aufladen.
Es ist das Größte im Leben, wenn ein Mensch begriffen hat, dass er vor Jesus "auspacken" darf, und dass er ihm vergibt und ihn auch verändert.
So wie jener junge Mann. An einem späten Abend kam er zu einem Pfarrer und bat ihn, er solle das Licht ausmachen: "Was ich Ihnen zu sagen habe, kann ich Ihnen wirklich nicht bei hellem Licht sagen, es ist furchtbar." Dann fragte er den Pfarrer im Dunkel, ob es eine Schande gibt in dieser Welt, vor der Jesus sich ekeln würde. Der Pfarrer sagte: "Er scheut sich vor keiner Schande. Er hat sie längst ertragen." Dann hat dieser junge Mann in der Dunkelheit seine Schuld bekannt. Er hätte sie nie einem sonst gesagt. Aber war überwältigt von dem, der ihn nicht verachtete sondern auch seine Schuld getragen hatte, von Jesus Christus. Er hat begriffen: Wenn Jesus Christus dazu da ist, um mir mein Elend abzunehmen, dann soll er es haben, und zwar jetzt.
Das sind Sternstunden eines Lebens, wenn ein Mensch vor Jesus ein Sünder wird, der Vergebung und Frieden mit Gott empfängt. Sternstunden, die wir alle heute auch noch erleben dürfen, unter dem Wort seiner Vergebung, dann im Abendmahl oder auch, wenn er will, im Gespräch mit einem Seelsorger.
Amen