Liebe Gemeinde!
Brauchen Sie einen guten Hirten? Brauchen Sie den guten Hirten Jesus? Was ist unsere Antwort? Was wäre wohl die Antwort von Leuten, denen man diese Frage auf der Straße, hier in der Neuen Heimat oder in der Fußgängerzone stellen würden? Vermutlich würden die Meisten diese Frage gar nicht verstehen. Und vielleicht erschließt sich ja tatsächlich das Bild vom Hirten für Gott und für Jesus dem modernen Menschen nicht mehr unmittelbar, so wie den Juden vor 2000 Jahren in Palästina. Damals gehörten Schafe zum Alltag dazu. Heute muss man schon lange suchen, bis man einen Hirten mit seiner Schafherde findet.
Auf jeden Fall war und ist der Beruf des Hirten nicht einfach sondern ein Knochenjob. Schafe sind pflegeintensive Tiere. Sie müssen rund um die Uhr betreut werden. Dies fängt früh morgens an mit der Auswahl der rechten Weiden, und hört nachts auf mit der Betreuung kranker Tiere und der Hilfe bei der Geburt der Lämmer. Schafe haben einen ganz schlechten Orientierungssinn. Sie sind, soviel ich weiß, stark kurzsichtig und verlaufen sich leicht. Sie brauchen einen guten Hirten, der sie vor Gefahren bewahrt. Sonst sieht es schlecht um sie aus.
Auch Menschen sind pflegeintensive Wesen. Eltern kleiner Kinder wissen davon ein Lied zu singen. Babys und Kleinkinder brauchen eine Betreuung rund um die Uhr. Sie müssen gefüttert, gewickelt, herumgetragen und getröstet und vor Gefahren bewahrt werden. Eltern und Hirten haben sicher viel gemeinsam.
Nun sind wir hier erwachsen oder auf den Weg dorthin. Wir brauchen nicht mehr wie kleine Kinder eine Rundumversorgung. Aber auch wir sind Menschen, die auf Orientierung angewiesen sind. Auch wir brauchen den guten Hirten Jesus Christus, der uns Hilfe und Trost gibt.
Doch wer hat und kennt denn Jesus Christus als seinen guten Hirten? Jesus sah einmal die vielen Menschen, die ihm nachfolgten, voller Mitleid an. Denn er merkte: "Sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben." Was würde er heute von unserem Volk sagen? Vermutlich Ähnliches. Uns geht es zwar gut, so gut, wie noch keiner anderen Generation vor uns. Wir leben im weltweiten Vergleich in einem unermesslichen Reichtum und Luxus. Das ist die eine Seite. Aber andererseits muss man doch fragen: Was gibt unserem Volk noch Orientierung? Welche Werte haben wir zum Beispiel? Man spricht ja häufig von unseren "westlichen Werten", an die sich alle, auch die Immigranten und Asylbewerber in unserem Land orientieren sollen. Ich frage mich manchmal: Was sind denn das überhaupt für Werte? Was ist denn vom christlichen Menschenbild und den damit verbundenen Werten noch übrig geblieben? Ich meine: nicht viel. Wir leben in einem Zeitalter des Individualismus. Es muss jeder selber wissen, was für ihn gut und richtig ist. Jeder kann tun und lassen, was er will. Hauptsache, er verletzt die persönlichen Rechte des anderen nicht. Was ist richtig? Was ist falsch? Auf diese Frage gibt es unserer postmodernen Welt keine allgemeingültige Antwort mehr. Jeder muss selber wissen, was Sinn und Ziel seines Lebens ist.
Orientierung sieht für mich anders aus. Freilich kann jeder sagen: Ich kann schon für mich selber sorgen. Ich weiß schon, wo es lang geht. Ich lass mich doch nicht bevormunden. Vielleicht kommt sich einer, der so denkt, stark vor. Andere, so meint er, brauchen jemand, der ihnen Orientierung gibt, brauchen so eine Art Hirten. Vielleicht gibt das ihnen ein gutes Gefühl. Aber ich brauche das nicht.
Für mich sind das Menschen, die wie verirrte Schafe ihren Weg allein suchen. Sie haben keinen, der ihre Wunden verbindet, der für sie das rechte Futter sucht, das ihre Seele satt macht, haben keinen, der böse Mächte von ihnen fernhält, oder Gefahren erkennt, die ihnen drohen.
Jesus dagegen ist der gute Hirte. Er kennt uns. Er weiß, was wir brauchen und uns gut tut. Er kennt das Ziel und er weiß den Weg. Er greift ein, wenn wir uns verirren. Wenn wir ganz tief im Schlammassel drin stecken, wenn wir, wie es im Psalm 23 heißt, im finsteren Tal wandern, dann ist er bei uns und tröstet uns. Wir wären wirklich Schafsköpfe, wenn wir diesen guten Hirten aus unserem Leben draußen halten und uns nur auf uns selbst verlassen wollen. Wir brauchen den guten Hirten, der uns begleitet, der uns den rechten Weg zeigt und der auch im finsteren Tal der Todesschatten noch da ist.
Natürlich, es gibt heute auch andere Hirten, Vorbilder, Leitbilder, die großen Stars in Sport, Unterhaltung, die Ideengeber, Impulsgeber und Ratgeber unserer Zeit. Wie wollen sie helfen, wenn sie nicht selber von dem guten Hirten inspiriert sind? Sie sind doch selber Schafe, die einen guten Hirten bräuchten. Und es sind auch Mietlinge, wie Jesus sich hier ausdrückt, dabei, also falsche Hirten, die nur selber ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Sie erzählen einem, wie gut sie es mit einem meinen. Aber sie wollen nicht reich machen sondern sich selber bereichern.
Der gute Hirte Jesus hat ein Markenkennzeichen. Daran kann man erkennen, dass er es gut mit uns meinen, untrüglich meinen muss. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
Im November 2014 kam ein skandinavischer Film neu in die Kinos mit dem Titel "Höhere Gewalt". Hier die dramatische Geschichte: Eine junge schwedische Familie macht Skiurlaub in den Alpen. Die Sonne scheint, die Pisten sind herrlich, das Bergidyll perfekt. Doch plötzlich geschieht beim Mittagessen auf der Terrasse ihres Restaurants die Katastrophe: Eine Lawine rast mit voller Wucht auf die Familie zu. Panisch ergreift die Mutter ihre beiden Kinder. Panisch ergreift der Vater - die Flucht. Er versucht nicht, seine Familie zu retten. Er reagiert kopflos und rücksichtslos und bringt nur sich selber in Sicherheit. Als sich der Nebel legt, sind alle unversehrt. Das große Unglück ist zwar aus geblieben, aber es bleibt der Schock über das Verhalten des Vaters. Das Vertrauen der Familie ist im Kern erschüttert. Wobei alle, die von dieser Beinahe -katastrophe hören, sich selber fragen: Was hätte ich getan?
Bei Jesus müssen wir uns diese Frage nicht stellen. Denn wir wissen ja, was er getan hat. Er hat sein Leben geopfert, aus Liebe zu uns. Die Ursache seines Todes waren ja nicht die Machenschaften der frommen Autoritäten der damaligen Zeit, die ihn los haben wollte. Sein Sterben war nicht, oder nicht nur die Hinrichtung eines unschuldigen Menschen, wie es oft in der Weltgeschichte vorgekommen ist. Nein, die Ursache des Todes von Jesus lag in Gott selber begründet. In seiner Liebe zu uns. "So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab…" heißt es in Johannes 3 Vers 16. Jesus stimmte dem Willen seines Vaters zu, nicht zähneknirschend sondern ebenso - aus Liebe. Selbst am Kreuz war er nicht mit sich selbst beschäftigt. Sondern er dachte an die, die seine Hilfe brauchten. In dieser furchtbaren Lage bat er für seine Mörder mit den Worten um Vergebung: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Er sprach dem verzweifelten Verbrecher neben ihm am Kreuz Vergebung und das ewige Leben zu: "Heute wirst du mit mir im Paradies sein." Er vergaß seine Mutter und seinen Jünger Johannes unter dem Kreuz nicht und bedachte sie mit den fürsorglichen Worten: "Siehe, das ist dein Sohn." Und "Siehe, das ist deine Mutter."
Von diesem Gekreuzigten ging Liebe aus, nur Liebe. Aus Liebe starb er stellvertretend für uns alle am Kreuz. Er war für uns am Kreuz in der Hölle der Gottesferne, damit wir nicht dort hin kommen müssen.
Da Jesus der Lebendige und Auferstandene ist, ist diese Liebe auch heute noch erfahrbar. Seine Worte der Liebe können uns auch heute noch unmittelbar ansprechen. "Meine Schafe hören meine Stimme", sagt er in unserem Predigtabschnitt.
Allerdings: Es ist nicht die Stimme einer sentimentalen Liebe, einer Liebe, die immer nur bestätigt und recht gibt. Sondern es ist die Stimme einer Liebe, die auch in Frage stellt, die Schwachstellen aufzeigt, die auch korrigiert. Die auch einmal sagt: "So nicht." Denn sie will ja nicht, dass wir einen falschen Weg gehen. Sie will uns auch verändern.
Seine Stimme überführt uns und trifft. Sie schmeichelt uns nicht sondern sagt uns die Wahrheit. Und wer selber aus der Wahrheit ist, der hört seine Stimme, lesen wir an anderer Stelle im Johannesevangelium. Es ist eine Stimme, die unsere Sünden beim Namen nennt, und zwar so, dass wir uns hinter keine Entschuldigungen verstecken können. Dass wir nicht mehr sagen können: "So schlimm bin ich doch nicht!" Seine Stimme kann hart klingen, aber sie verdammt und richtet nicht, niemanden. Sondern sie will einen Menschen zum Aufwachen, zur Selbsterkenntnis bringen, ohne die kein Mensch zur Herde Jesu Christi gehören kann. Denn Jesus nimmt nur Sünder an. Nur Sünder hören auch auf die lieblichen und lockenden Töne der Stimme Jesu: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!“ Nur Sünder merken auf, wenn diese Stimme auch von Gnade, Vergebung und Neuanfang spricht. Schafe Jesu hören gern auf die Stimme ihres Hirten, die ihnen zusagt, dass er sie trotz ihrer Sünde und Schuld lieb hat, sie in seine Arme schließt und nicht mehr los lässt.
Eigentlich sollte es der Normalfall sein, dass ein Christ die Stimme Jesu hört. Etwa wenn er früh am Morgen seine Losung liest, oder wenn ihm ein Liedvers einfällt und es singt in ihm diese Liedstrophe eines geistlichen Liedes, oder wenn ihm in einer bestimmten Lage ein Bibelwort wichtig wird.
Allerdings kann es passieren, dass er diese Stimme nicht mehr hört, auch wenn er sie vielleicht schon kennt. In der Regel hat das einen Grund: Er will dieser Stimme nicht gehorchen. Er weiß schon selber ganz genau, was richtig und was falsch ist. Was braucht er da noch Jesus, der ihn auch einmal korrigieren möchte? Oder da gibt es bestimmte Punkte in seinem Leben, die soll am besten niemand wissen, unehrliche Handlungen im Beruf etwa, ein Groll gegen einen bestimmten Menschen, oder Sünden auf sexuellem Gebiet. Er will nicht, dass sich das in seinem Leben ändert. Oder er meint, das kann sich auch nicht ändern. Jesus will ihm helfen. Und er kann ihm helfen, in jeder Lage, durch sein Wort. Aber wie will er mit ihm reden, wenn er sich von ihm nicht helfen lassen will?
Wieder seine eigenen Wege gehen. Das kann natürlich jeder tun. Jesus zwingt niemand, auf ihn zu hören. Er lässt uns die Freiheit. Aber dann kommt wieder diese Leere und Langeweile in ein Leben hinein, die der nicht kennt, der auf die Stimme Jesu hört. Ein Leben mit Jesus ist immer interessant, ja manchmal aufregend. Aber ein Leben ohne ihn, ohne auf ihn zu hören, ist öde und langweilig.
Es wäre uns vielleicht lieber, wenn Jesus es umgekehrt gesagt hätte: „Ich folge ihnen.“ Es ist so tröstlich, ihn zu bitten: „Herr, gehe du mit mir auf allen meinen Wegen!“ Aber so steht es nun einmal nicht da. Jesus sagt: „Sie folgen mir.“ Er, Jesus will den Weg angeben. Er ist der Herr. Und wir müssen schon mit ihm gehen, wenn er uns nicht ganz und gar entgehen soll.
„Sie folgen mir.“ Wenn der Weg schwierig wird, dann zeigt es sich, wer zur Herde Jesu Christi gehört und wem es ernst ist mit der Nachfolge. Da kehren die Mitläufer um. Seine Schafe aber schauen auf ihn und folgen ihm.
Sie folgen ihm sehr getrost, denn sie vertrauen ihm. Sie nehmen ihm ab, dass er sie nie auf verkehrter sondern immer auf rechter Straße führt. In den dunklen Tälern drängen sie sich um so näher an den guten Hirten, um die Tuchfühlung zu ihm nicht zu verlieren. Und er lässt sie nie im Stich. Er ist immer bei ihnen, um ihnen zu helfen und sie zu trösten. Und wenn je ein Schaf auf seinem Weg stolpern oder ihm die Kräfte ausgehen sollte, so lässt er es nicht liegen, sondern nimmt es auf seine Schultern und trägt es weiter. Seine Kräfte sollen ihre Kräfte werden. So nimmt sich der gute Hirte auch der Schwachheit, Furcht und Mutlosigkeit seiner Schafe an. Eben darum können sie ihm auch folgen.
So erfährt einer, der Jesus folgt, immer wieder die Geborgenheit und Hilfe des guten Hirten. Wer ihm vertraut, braucht keine Angst vor der Zukunft zu haben. Denn nichts kann ihn von der Liebe Gottes trennen. Wenn Schuld uns belastet, dann brauchen wir keine Angst zu haben, dass Gott deshalb nichts mehr von uns wissen will. Wir dürfen sie im Gebet zu ihm bringen und im Glauben die Vergebung von ihm empfangen, heute und jeden Tag unseres Lebens. Der Glaubende braucht auch keine Angst vor dem Sterben zu haben. Selbst der Tod kann ihn nicht aus der Hand Gottes reißen. Denn er ist auch der Herr über diese furchtbare Macht. Seit der Auferstehung Jesu dürfen wir glauben, dass nicht der Tod sondern das Leben das letzte Wort behält. Gottes Liebe ist nicht nur stärker als meine Schuld sondern auch als der Tod.
Vielleicht kennen Sie die schlichte Geschichte von Tom, dem Hirtenjungen, der in einem harten Winter in einer Höhle erfror. Erst nach der Schneeschmelze fanden die anderen Dorfbewohner den Toten. Sie sahen, dass Tom seltsam dalag, die Hände auf der Brust, und mit der rechten Hand hielt er den Ringfinger der linken fest umschlossen. Ganz fest. Die Männer schauten sich verlegen an. Sie konnten sich nicht denken, warum Tom so eingeschlafen und erfroren war. Da kam der Pfarrer des Dorfes. Er sah Tom lange an. Dann sagte er zu den Männern: “Ich will euch sagen, warum Tom das gemacht hat. - Im Konfirmandenunterricht konnte er nicht viel lernen. Auch nicht den Psalm vom guten Hirten. Da sagte ich zu ihm: ‘Tom, du lernst nur die ersten fünf Wörter von diesem Lied. Strecke deine linke Hand aus und spreize die Finger. Jetzt kannst du die fünf Wörter an den Fingern abzählen: Der - Herr - ist - mein - Hirte.’ Tom ging mit dem Zeigefinger der rechten Hand an den fünf Fingern entlang. Beim Daumen fing er an: ‘Der - Herr - ist - mein -Hirte.’ ‘Jesus ist der gute Hirte. Er kennt dich. Er geht mit dir. Er ist dein Hirte. Dein Hirte, der dich nicht verlässt. Merk es dir, Tom. Und damit du es gewiss nicht vergisst, umklammerst du bei dem Wort MEIN mit der rechten Hand den Ringfinger der linken. So. So ist es recht. Der - Herr - ist - mein - Hirte. Er lässt uns nicht umkommen. Und niemand wird uns aus seiner Hand reißen. Auch nicht der Tod.’” Da wussten die Männer, woran Tom gedacht hatte, als er starb.
Das ist eine der tröstlichen Aussagen von Jesus: Niemand kann sie aus meiner Hand reißen. Darauf können wir uns verlassen. Und darüber dürfen wir uns freuen.
Auch die furchtbare Macht des Todes kann uns nicht aus seiner Hand reißen. Der gute Hirte schenkt uns das ewige Leben. Wir gehören unverlierbar zu ihm.
Amen