Bayreuth, den 8.5.16 Lukas 18,35-43

Liebe Gemeinde! 

Wo ist Gott? Diese Frage stellen sich viele Menschen, vor allen Dingen, wenn sie von den vielen furchtbaren Ereignissen in unserer Welt sehen und hören und erst recht, wenn sie selber ein schlimmes Schicksal durchmachen.

"Wo warst du Gott?", so fragte Bischof Wölki nach dem German Wings Absturz im letzten Jahr stellvertretend für viele Angehörige. Vor wenigen Wochen hat sich dieses Unglück in den französischen Alpen zum ersten mal gejährt. "Ich glaube seitdem nicht mehr an Gott." sagt Anke Vennhoff. Sie hat bei dem Absturz ihre Tochter verloren.

"Wo ist Gott?" Vielleicht hat auch der Blinde vor Jericho so gefragt. Bartimäus hieß er, berichtet uns der Evangelist Markus. Grund zu dieser Frage hatte er sicherlich. Er war blind, konnte sein Schicksal ohne fremde Hilfe nicht meistern und war auf die mildtätigen Gaben der Vorübergehenden angewiesen. Dazu kam: Wer so eine Krankheit wie Bartimäus hatte, der stand unter einem Verdacht. Es war der Verdacht, dass er oder seine Angehörigen schwer gesündigt hatten. Und diese Meinung bekam er natürlich auch zu spüren: Klar, dieser Bartimäus muss von Gott verlassen sein. Sonst wäre er nicht blind.

Aber eines Tages wendet sich sein Schicksal. Es passiert etwas Unerwartetes im Leben des Bartimäus. Er hört, wie eine große Menschenmenge bei ihm vorüberging. Was war da los? Er erkundigt sich bei den Leuten. Man sagt ihm: Jesus geht vorüber. Es ist ihm klar: Das ist seine Chance. Die muss er nutzen. Wenn das stimmt, was man von Jesus sagt, dass er Aussätzige wieder gesund, Lahme und auch Blinde heilt, dann kann dieser Mann auch ihm helfen. Die Hilfe für ihn war ja tatsächlich ganz nahe. Sie stand gewissermaßen nur einen Schritt neben ihm, in der Gestalt von Jesus.

Ist uns das auch klar? Als der Auferstandene ist Jesus für niemandem von uns weit weg. Er hat es vor seiner Himmelfahrt seinen Jüngern und allen seinen Anhängern versprochen: "Ich bin bei euch alle Tage." Jesus ist immer da, um zu helfen, das heißt auch verfahrene Situationen zu ändern, zu vergeben, zu heilen oder zu trösten. Deshalb konnte auch ein Paul Gerhardt in seinem Adventslied schreiben: "Seid unverzagt, ihr habet die Hilfe vor der Tür." Vor der Tür, das heißt in nächster Nähe. Er ist nicht weit weg, wie wir vielleicht manchmal denken, sondern zum Eingreifen bereit. Seine Hilfe ist abrufbereit.

Wir sehen dies vielleicht nicht, oder nicht sofort. Es geht uns so wie Bartimäus. Der hat ja auch nichts gesehen. Er musste sich auf die Informationen der Leute in seiner Umgebung verlassen. Aber das tat er. Und er wurde geheilt. Jesus ist immer in der Nähe. Aber nicht greifbar, nicht sichtbar. Man muss sich schon auf die Suche machen, um ihn zu finden.

Folgende Geschichte ist mir zu einem Gleichnis geworden: Es war bei einer Konfirmationsnachfeier. Ich überreichte meinen Konfirmanden als Geschenk der Kirchengemeinde ein Bronzekreuz. Auf der Rückseite stand der Konfirmationsspruch. Beim Überreichen der Kreuze las ich ihn vor. Die Feier verlief reibungslos, bis ich zum letzten Konfirmanden kam. Dessen Kreuz fehlte. Es war einfach nicht zu finden. Ich suchte das ganze Pult ab, sah wohl auch in meiner Tasche nach. Nichts zu finden. Da fiel es mir wieder ein: Ich hatte das Kreuz vor der Feier einem Kirchenvorsteher gezeigt und es dann in die Jackentasche meines Anzuges gesteckt. Die verblüffte Gemeinde sah zu, wie ich meinen Talar hochraffte und aus der Jackentasche das vermisste Kreuz hervorzauberte. Dann schallendes Gelächter, als ich den Spruch auf dem Kreuz vorlas:

"Gott spricht: So ihr mich von ganzen Herzen suchen werdet, will ich mich von euch finden lassen."

Der eine oder andere Gottesdienstbesucher dachte und sagte es mir auch nachher: Das war eine tolle Inszenierung. Klar, war sie auch. Aber nicht von mir. Sondern von Gott. Er machte der Gemeinde und natürlich auch mir - bis auf den heutigen Tag - klar: Wenn du Jesus suchst, wirst du ihn finden.

Mit ihm kann es uns oft genauso gehen wie mir mit dem Kreuz bei jener Konfirmationsnachfeier. Wo ist er? Wir sehen ihn nicht. Doch er ist nicht weit weg. Er ist uns näher, als wir ahnen. Oft nur ein paar Zentimeter bis zum Bücherregal, in dem deine Bibel steht. Er ist auch hier in diesem Saal. Da bin ich ganz sicher. Denn er hat es versprochen. Wo zwei oder drei in seinem Namen zusammenkommen, da ist er auch mit dabei. Er ist da und lässt sich finden, auch von dir, wenn du ihn von ganzem Herzen suchst.

So erging es einem Mongolen, der Buddhist war. Eines Nachts hatte er einen Träum. Er sah eine hell strahlende Gestalt, die ihn voller Liebe ansah, ihn umarmte und zu ihm sagte: „Ich bin Jesus.“ Aufgewühlt wachte er auf. Und er machte sich auf die Suche nach Jesus. Überall fragte er nach ihm. Niemand konnte ihm weiterhelfen. Da kam eine junge Frau zu ihm, eine Missionarin, und fragte ihn: „Möchten Sie etwas von Jesus hören?“ Dem Mann schossen die Tränen aus den Augen und überwältigt erzählte er ihr seine Geschichte mit dem Traum. Endlich war jemand da, der ihm von diesem Jesus erzählen konnte! Und er fand zu Jesus durch das, was diese junge Frau ihm nun sagte.

So macht uns auch diese Geschichte klar: Suche Jesus. Von ganzem Herzen. Dann wirst du ihn finden. Und lasse dich durch nichts von dieser Suche abhalten.

So machte es auch Bartimäus. Er sah Jesus nicht. Aber er rief nach ihm. Die Umstehenden sagten ihm: "Halt doch deinen Mund." Es war doch zu peinlich, wie sich dieser blinde Bettler hier aufführte! Brüllt hier rum, während der Messias hier vorbeiging. Das geht doch nicht!

Aber Bartimäus ließ sich nicht beirren. Umso lauter schrie er: "Jesus, du Sohn Davids, hab doch Erbarmen mit mir!" Und tatsächlich bekam er die volle Aufmerksamkeit von Jesus.

Sich abhalten lassen, Jesus zu suchen. Da gibt es viele Gründe. Es können andere Menschen sein wie bei Bartimäus. Die können einem falsche Ratschläge geben wie: "Wieso Gott suchen? So ein Unsinn! Wie soll das gehen? Man sieht ihn ja nicht! Und vielleicht gibt es ihn auch gar nicht." Ich bin mir sicher: Viele Menschen lassen sich durch solche falschen Ratgeber beeinflussen. Diese verspotten und verhöhnen den Glauben. Und bringen mit ihrem Gerede andere auch weg vom Glauben.

Es gibt noch anderes, was einen hindern will, Jesus zu suchen. Diese Gründe liegen in einem selbst. Zum einen kann sich einer nicht trauen, Jesus um die Erfahrung seiner Nähe und um Hilfe anzurufen. Er sieht auf sich, auf seine Schwächen, seine Fehler, seine Sünden, seinen fehlenden Glauben. So einem Menschen kann ich nur Mut machen: Wer Jesus um Erbarmen anruft so wie dieser Bartimäus, der bleibt nicht unerhört. Ganz sicher nicht.

Wir haben einen barmherzigen Gott. Sein Wesen ist Barmherzigkeit. Das heißt er hat ein Herz für die Armen, für die, die seine Hilfe brauchen. Sein Herz schlägt gerade für sie.

Ein anderer Grund kann sein: Jemand will nicht die Nähe Jesu erfahren, weil er weiß: Diese Nähe könnte für ihn auch unangenehm werden. Er denkt: "Da müsste ich bestimmte Dinge aufgeben, die mich von Gott wegbringen. Da müsste ich bestimmte Kreise oder Veranstaltungen nicht mehr aufsuchen. Und das will ich nicht." Aber ich glaube, da liegt ein Irrtum vor. Christentum ist kein Zwang sondern ein Angebot. Niemand "muss" sein Leben ändern, weil es Gott nicht gefällt. Es ist vielmehr so: Jesus schenkt uns durch seine Vergebung seine Liebe. Dann wird uns klar werden, was die Beziehung zu ihm hindert und was fördert. Und wer Jesus liebt, weil er ihn zuerst geliebt hat, der wird ihm zuliebe auch bestimmte Dinge lassen. Auch wenn es ihm vielleicht schwer fällt.

Ein weiterer Grund könnte sein: Es denkt jemand: Ich habe ja noch Zeit. Ich kann ja Jesus später immer noch suchen. Aber jetzt ist erst etwas Anderes dran.

Doch es ist ein gefährlicher Trugschluss, wenn wir meinen, wir selber können über unsere Zeit verfügen, wir selber können nach Belieben unsere Zeit einteilen. Unser kirchliches Leben mit seinen regelmäßigen Veranstaltungen verleitet uns zu der Meinung, es sei selbstverständlich immer Gottes Gnade da. Jeden Sonntag feiern wir ja Gottesdienst. Da können wir Jesus finden. Bei vielen anderen Gelegenheiten kann dies auch geschehen, etwa wenn jemand einen Gemeindekreis besucht. Aber stimmt das so? In Wirklichkeit kehren Situationen, in denen mir Jesus begegnet, nie wieder. Gott schenkt einem Möglichkeiten, die morgen schon wieder verschlossen sein können. Und wer weiß, ob es für ihn überhaupt noch ein Morgen gibt.

Die griechische Sprache, also auch das Neue Testament, unterscheidet Chronos als die vergehende Zeit, die man mit Uhren misst, von Kairos, der erfüllten Zeit, dem günstigen Augenblick oder der Heilszeit.

Der griechische Bildhauer Lysippos stellt Kairos, die günstige Zeit, als einen schönen jungen Mann dar, der vorne an der Stirn einen flatternden Haarschopf hatte und hinten im Nacken kahlgeschoren war.

Der Künstler wollte damit sagen, dass man den Kairos, wenn er uns begegnet, „beim Schopfe fassen“ muss, denn ist der günstige Augenblick vorüber, gibt es nichts mehr zu fassen. So entstand die Redensart „Die Gelegenheit beim Schopfe fassen“, die uns daran erinnert, dass wir eine günstige Zeit und einen Augenblick des Heils nicht ungenutzt verstreichen lassen sollen.

Ein Bartimäus nutzte den Kairos. Er kriegte mit: Jesus ist da. Jetzt muss ich die Gelegenheit nutzen. Jetzt muss ich ihn um Hilfe bitten. Denn wer weiß, ob ich Jesus jemals wieder begegnen werde. Und so schreit er ohne Hemmungen um Erbarmen.

Martin Luther meint zu dem Verhalten des Blinden: "Fehlt euch etwas, wohlan, schüttet euer Herz vor Gott aus… Er hört es gern, will auch gern helfen und raten… Denk auch nicht: Es ist zu groß oder zu viel. … Er ist größer… Je mehr du bittest, desto lieber hört er dich. Schütte nur rein und alles heraus, tröpfle nicht, denn er wird auch nicht tröpfeln, sondern dich mit Flut überschütten."

So erlebte es auch Bartimäus. Er sagt Jesus klar heraus, was er will. Er möchte wieder sehen. Eine große Bitte, eine sehr große Bitte. Eigentlich unmöglich zu erfüllen. Aber Jesus heilt ihn. Es hat ihm offensichtlich gefallen, dass Bartimäus ihn um so etwas Großes gebeten hat. Es gefällt ihm, wenn wir ihm nicht nur kleine sondern große Dinge zutrauen.

Bartimäus konnte wieder sehen, ein Riesenwunder. Aber es geschah noch mehr an ihm, noch Größeres. Er fand seinen Gott, in der Person von Jesus. Bei diesem Gott wollte er nun immer bleiben. Er wollte immer in seiner Nähe sein. Deshalb heißt es zum Schluss unserer Geschichte: Bartimäus folgte Jesus nach.

Das geschieht immer wieder, bis auf den heutigen Tag. Da ist einer blind für Gott. Er lebt sein eigenes Leben, kümmert sich nicht um Gott. Doch dann geschieht das Großartiges: Er findet Gott in seinem Leben, er sieht ihn gewissermaßen. Oftmals ist es so wie bei Bartimäus. Es ist irgendeine schwere, vielleicht sogar menschlich gesehen aussichtslose Lage. Da wendet er sich in seiner Not an Gott - und findet ihn.

Ich denke an John Newton. Er hatte eine liebevolle Mutter. Sie brachte ihm viele Gebete, Bibel- und Liedverse bei. Ein kindlicher Glaube war in ihm geboren. Dann starb die Mutter, als er noch nicht einmal sieben Jahre jung war. Seine Seele war zutiefst verletzt. Mit zehn Jahren nahm ihn sein Vater mit auf die See. Er wurde ein Seefahrer. Er brach mit seinem kindlichen Glauben. Er wurde hartherzig. Er genoss das Leben in vollen Zügen: Trinken, Ausschweifungen, Schlägereien - das volle Programm.

Er wurde Kapitän und segelte die Sklaven von Afrika nach Amerika. Als Sklavenhändler verdiente er viel Geld. Sein zügelloses Leben endete jäh in einem Sturm. Sein Schiff drohte in dem Sturm unterzugehen. Da erinnerte er sich an seine Kindheit, an seine Mutter, an seinen kindlichen Glauben. "Herr, erbarme dich!" betete er schreiend in den nächtlichen, tobenden Himmel. Wie Bartimäus. Der Sturm legte sich, das Schiff war nur noch ein Wrack, aber es schwamm noch in den rettenden Hafen. Er wendete sich wieder Christus zu. Der Sturm war für ihn das Gericht Gottes. Mitten in diesem Gericht Gottes ist ihm die Gnade Gottes begegnet. Er wurde ein frommer Mann. Er kämpfte gegen die Sklaverei. Er wurde in England Pfarrer und dichtete das Lied: "Amazing grace, how sweet the sound, that saved a wretch like me. I once was lost, but now I'm found, was blind, but now I see." Also auf Deutsch" Wunderbare Gnade, wie süß ist der Klang, der ein Wrack wie mich rettete. Vorher war ich verloren, aber nun bin ich gefunden. Vorher war ich blind, aber nun sehe ich."

Wende auch du dich Christus zu, zum ersten Mal oder wieder neu. Dann wirst du auch ein Sehender, einer der die Wirklichkeit Gottes sieht. Dann entdeckst du seine große Liebe zu dir und seine vergebende und verändernde Kraft. In dem Lichte dieser Liebe siehst du dich selber auch anders: Als einen Menschen, der diese Liebe gar nicht verdient, weil so Vieles an dir ist, was dieser Liebe widerspricht wie Schuld und Versagen. Und staunend merkst du: Dieser Gott nimmt mich trotzdem als sein Kind an. Der stößt mich nicht von sich weg. Sondern der vergibt mir und gibt mir die Kraft, in Zukunft anders zu handeln.

Amen