Bayreuth, den 5.6.16 1. Timotheus 1,12-17

Liebe Gemeinde! 

Es gibt ein unanständiges Wort. Genauer gesagt: In der heutigen Zeit klingt es fast unanständig. Deshalb wird es kaum mehr verwendet. In den Kirchen hat man früher dieses Wort oft gehört. Heute nimmt es kaum ein Pfarrer mehr in den Mund. Denn wenn er es tut, muss er damit rechnen, belächelt zu werden. Ich werde es trotzdem tun. Es handelt sich um das Wort "Sünde".

Es ist ein altmodisches Wort, sicher. Aber was es bezeichnet, das ist bis auf den heutigen Tag aktuell. Auch Paulus redet immer wieder in seinen Briefen von Sünde, auch in unserem Predigtabschnitt. Er tut dies nicht neutral und distanziert. Sondern er spricht als ein Betroffener. Ich selber, schreibt er, bin ein Sünder, und zwar der Schlimmste. Das klingt nicht sehr harmlos, so wie in jenem Faschingsschlager: "Wir sind alle kleine Sünderlein, …Der Herrgott wird es uns bestimmt verzeih'n…" Sondern das klingt sehr heftig, fast verstörend: Ich bin der schlimmste Sünder.

Wie kann ein Mensch nur so von sich reden? Das klingt ja fast masochistisch, selbstquälerisch. Ist es aber nicht. Es ist genau das Gegenteil der Fall. Paulus hat an seinem eigenen Leib erkannt, was Sünde ist. Nämlich eine ungeheure Last. Und er hat auch erfahren, wie sie ihm abgenommen worden ist. Über beides wollen wir jetzt reden.

Also zunächst zu der Frage: Was ist denn überhaupt Sünde? Was die Sünde anbelangt, gibt es ein großes Missverständnis: Dieses Missverständnis kann man in den Satz zusammenfassen: Sünde ist das, was sich nicht gehört, obwohl es eigentlich Spaß macht. Sünde verspricht Lustgewinn, prickelnden Reiz. Das Dumme ist nur: Die Kirche ist immer dagegen. Sie wissen aus Kindertagen: Das, was Ihnen die Eltern verboten haben, war immer ganz besonders verlockend. Der Liedermacher Wolf Biermann singt: „Was verboten ist, das macht uns grade scharf.“

Sünde ist gleich verbotene Lust. Diese Fehldeutung des Wortes hat sich tief in uns eingenistet. Denken Sie an die vollschlanke Dame mit ihrer Freundin im Café, die sich genüsslich das dritte Stück Sahnetorte schmecken lässt. Sie sagt nach dem ersten Bissen plötzlich: „Heute sündige ich mal wieder gegen die schlanke Linie.“

Kennen Sie die Comics von Hägar? Sein Freund Sven fragt ihn: "Ist Gefräßigkeit Sünde?" Hägar fragt zurück: "Macht es Spaß?" - "Ja." - "Dann ist es Sünde." Zuviel Essen ist also Sünde. Wer lustvoll mit dem rechten Fuß aufs Gaspedal tritt, wenn 50 km/h erlaubt sind, der wird als „Verkehrssünder“ bezeichnet. Wer gegenüber dem Finanzamt nicht ehrlich ist, der ist ein „Steuersünder“. Lust und Sexualität gehören eng zusammen. Kein Wunder, wenn Sex und Sünde oft in einem Atemzug genannt werden. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn eine Straße in den großen Städten die „sündige Meile“ oder so ähnlich genannt wird. Wer in einen Film geht, der den Titel „Süße Sünde“ trägt, weiß auch, was ihn erwartet.

Natürlich hat Steuerhinterziehung, Rasen im Straßenverkehr, seinen Leib durch unmäßiges Essen schädigen, Ehebruch oder Pornosucht etwas mit Sünde zu tun. Aber Sünde ist nicht verbotene Lust. Gott ist kein Spaßverderber. Bei der Sünde geht es um mehr als um ein paar unanständige Dinge, die wir tun. Sünde hat etwas mit unserer Person zu tun, genauer gesagt mit unserer Beziehung zu Gott. Sünde heißt, da ist die Beziehung zu Gott gestört, ja zerstört. Ein Sünder ist einer, der in einer schweren Kontaktstörung zu Gott lebt. Da funkt nichts mehr. Da ist man abgeschnitten von der Lebensenergie Gottes. Wenn Sie in einer Kontaktstörung zu einem Menschen leben, bricht zuerst das Gespräch ab. Man redet nicht mehr miteinander; man geht sich aus dem Weg; man verliert sich aus den Augen. Und irgendwann ist man sich fremd geworden.

Ähnlich ist es mit der Beziehung zu Gott. Denken wir an Paulus. Er war kein unmoralischer Mensch. Er lebte nicht unanständig, ließ sich nicht mit Frauen ein, war kein Alkoholiker, kein Dieb, kein Betrüger. Er betete, las die Bibel. Und trotzdem war er ein Sünder, einer der größten Art sogar, einer, der eine besonders schwere Kontaktstörung zu Gott hatte. Er hatte keine Beziehung zu Gott.

Paulus konnte zwar sagen: Ich glaube an Gott. Aber er war ihm in Wirklichkeit nie begegnet. Er glaubte nur an die Buchstaben G – o – t –t, aber Gott war ihm fremd geblieben. Er fehlte in seinem Leben. Paulus lebte ohne Gott. Er war gott – los, los von Gott.

Genau das ist auch bei denen nicht in Ordnung, die keine Räuber, Mörder und Ehebrecher sind sondern anständige Christen. Es fehlt die Beziehung zum lebendigen Gott. Sündenerkenntnis besteht nicht darin, dass ich erkenne: Ich habe hie und da einen mehr oder weniger großen Fehler gemacht,, sondern dass ich merke: Ich habe gar keine Verbindung mit dem lebendigen Gott. Ich kenne den gar nicht, ohne den das Leben sinn- und zwecklos ist.

Als frommer Mensch ist es gar nicht so leicht, sich selbst auf die Schliche zu kommen, weil man sich ja für einen passablen Christen hält. Nur Gott selber kann uns überführen. Wenn er in seinem Wort der Bibel oder einer Predigt wie heute mit uns redet, dann kann es mir wie Schuppen von den Augen fallen: Auch ich bin ein Sünder, auch ich brauche die Gnade Gottes. Auch ich brauche Jesus als meinen Heiland.

Die Hauptsünde der Frommen, und da beziehe ich mich natürlich selber mit ein, ist der Hochmut. Und wir wissen ja vielleicht, was in der Bibel über die Hochmütigen steht: Gott widersteht ihnen. Er ist gegen sie, nicht für sie. Wenn jemand sich für besser als andere hält, wenn er abwertend von ihnen redet und sie somit verachtet, dann ist Gott nicht auf seiner Seite. So ein Verhalten gefällt ihm ganz und gar nicht.

Genau diese Sünde erkannte auch Paulus. Doch nicht nur das. Er begriff auch: Jesus nimmt Sünder an. Er nimmt auch mich. Er vergibt auch mir, trotz meiner Selbstgerechtigkeit. Bei Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Ja, je mehr ich die Tiefe meiner Sünde erkenne, desto größer ist für mich auch die Gnade Gottes.

Es war nach einer Predigt von Pfarrer Kemner. Er hatte gerade diese gute Nachricht entfaltet: Jesus nimmt Sünder an. Ein junger Mann sprach ihn an. Er sagte: "Herr Pfarrer, Sie haben recht. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich selbst erkannt." Er stockte und schluckte: "Herr Pfarrer, ich habe ein Hobby. Es ist furchtbar, ich kann es nicht lassen. Ich klaue immer Mercedessterne. Ihrer ist auch dabei. Ich habe gegenwärtig sechs in meiner Tasche. Suchen Sie sich einen aus!" Pfarrer Kemner machte es und fragte: "Und was machen wir mit den anderen?" Der junge Mann meinte: "Ich weiß es nicht mehr, wo ich sie gekrampft habe." Nun sagte Kemner: "Ich kenne einen Operateur, der kann Krampfadern operieren. Bei dem gibt es kein Unheilbar!"

Den Operateur kenne ich auch. Der kann die Krankheit unserer Sünde operieren. Der kann uns gesund machen. Der kann unsere Sünde vergeben. Es muss ja nicht die Klau-Sucht sein, wie bei jenem jungen Mann, aber vielleicht die Kritiksucht, die Ehrsucht, die Eifersucht, oder auch die Bitterkeit, das nicht Vergebenkönnen, die Ungeduld, die fromme Heuchelei, die Lieblosigkeit und Unfreundlichkeit.

Jesus kann uns therapieren. Er wird mit unserer Sünde fertig. Er kann Sünde vergeben und sogar unser Wesen verändern. Wir selber können und brauchen uns nicht bemühen, uns selber zu verändern, das nicht mehr zu tun, was wir als Sünde erkannt haben. Das wäre ein frommer Krampf. Christen kennen den Operateur, der "Krampfadern" operieren kann. Auf ihn kommt es an. Das gilt auch denen, die immer wieder unter ihrer Schuld leiden, die nicht recht glauben können, dass ihre Sünde vergeben ist. Immer wieder kommen Erinnerungen an das Vergangene hoch, die sie quälen. Diese Menschen vergessen eines: Christus ist doch für jede Sünde, auch für die unverzeihlichen, am Kreuz gestorben. Christus vergibt, deshalb dürfen sie sich selbst auch vergeben.

Martin Luther erinnert 1516 in einem Brief Georg Spenlein an dieses Wunder, dass Jesus gerade Sünder annimmt: "Darum, mein lieber Bruder, lerne Christus kennen, und zwar den Gekreuzigten. Lerne ihm zu lobsingen und - mitten aus der Verzweiflung über dich selbst heraus - zu ihm zu sprechen: "Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde; du hast das Meine angenommen und mir das Deine geschenkt; du hast angenommen, was du nicht warst, und mir gegeben, was ich nicht war. Hüte dich, je einmal nach solcher Makellosigkeit zu trachten, dass du vor dir selbst kein Sünder mehr scheinen oder gar kein Sünder mehr sein willst. Denn Christus wohnt nur unter Sündern. Dazu kam er ja vom Himmel, wo er unter Gerechten wohnt, damit er auch unter Sündern seine Wohnung habe. Diese seine Liebe bedenke unermüdlich, so wirst du seinen allersüßesten Trost ersehen. Müssten wir durch unsre eigenen Mühen und Qualen zur Ruhe des Gewissens gelangen - wozu ist er dann gestorben?"

Die Last der Sünde, jeder Sünde, kann also abgenommen werden. Aber es kann noch etwas Anderes geschehen. Jesus kann gerade Sünder für seine Zwecke gebrauchen. Er kann sie sogar zu Schlüsselfiguren seines Wirkens machen. So wie einen Paulus. Eigentlich war er ungeeignet für seine spätere Aufgabe als Verkündiger der Gnade Gottes. Denn er hasste die Christen. Er verfolgte sie und freute sich sogar, als Stephanus wegen seines Bekenntnisses zu Jesus gesteinigt wurde. Er sah sich nicht als Sünder sondern als einen Gerechten, der für die Sache Gottes eintritt.

Er war kein "verlorener Sohn", von dem wir in der heutigen Lesung gehört haben. Sondern er gleicht dem frommen Sohn. Der blieb zwar beim Vater. Aber er kannte ihn nicht. Er dachte, er müsste sich die Liebe des Vaters verdienen und schuftete sich die ganzen Jahre ab, wie ein Knecht aber nicht wie ein geliebter Sohn. Solchen frommen Söhnen, wie Paulus einer war, geht Jesus auch nach. Auch sie hat er lieb. Er sieht hinter der Fassade ihrer Frömmigkeit Menschen, die sich danach sehnen, nicht nur wegen ihrer Leistung geliebt zu werden sondern einfach deshalb, weil es sie gibt. Bedingungslose Liebe, das kann auch für die befreiend sein, die gewohnt sind, sich über ihre Leistung zu definieren. Gerade für sie. Denn insgeheim fragen sie sich wie Manfred Siebald in einem seiner Lieder:

Wer liebt dich noch nach Abzug Deiner Stärken? Wer liebt Dich auch, wenn Du nicht mehr funktionierst? Wer jubelt einfach, weil Du da bist, sei `s auch nur als stummer Gast? Wer fragt nicht erst, was Du weißt und was Du kannst und was Du hast? Wer liebt Dich?

Und als Antwort gibt der Liederdichter: Gott hat Dich lange schon ins Herz geschlossen, auch wenn Du ihm nichts vorzuweisen hast. Lud nicht Sein Sohn sich Deine Schulden auf? Und starb Er nicht daran? Lädt Er nicht die Armen ein, damit Er sie beschenken kann? Er liebt Dich, er liebt Dich.

Diese Liebe überwältigte auch Paulus. Und ausgerechnet er, dieser selbstgerechte Pharisäer, wird zu einem Menschen, der in all seinen Schriften und Predigten die wunderbare Gnade Gottes, seine unverdiente Liebe groß macht wie kein anderer.

Das Leben von Paulus zeigt uns: Kein Mensch ist zu verkehrt, und kein Mensch ist zu selbstgerecht, als dass Gott nicht auch ihn gebrauchen könnte und zu einem gesegneten Menschen machen könnte. Die Größe unserer Fehler hindert Gott nicht daran, dass er durch uns wirkt, sondern immer nur die Größe unseres Unglaubens.

Und wie will Gott nun einen Menschen gebrauchen? Es ist ja keiner unter uns ein Paulus, der zu einem der größten Missionare der Kirchengeschichte und zu einem der einflussreichsten Theologen der Christenheit wurde. Es geht im Christentum nicht darum, dass wir große Dinge tun. In der Regel besteht unser Alltag aus kleinen Dingen. Aber diese kleinen Dinge können mit etwas Großem, mit dem Größten, was es gibt, getan und erfüllt werden: Mit der Liebe Gottes.

Und wenn nun jemand unter uns denkt: "Wo geht denn von mir diese Liebe Gottes aus?" so mag das ehrlich sein. Aber viel besser, als nur über sein Versagen nachzudenken, ist, über die Liebe Gottes nachzudenken, die auch für ihn gilt.

Ich möchte es zum Schluss ganz persönlich für jeden von uns so ausdrücken: Vergiss das nie, halte dir das jeden Tag vor Augen, wie sehr Gott dich lieb hat, so lieb, dass er dir vergibt, dass er jeden Tag bei dir ist, um dir zu helfen und beizustehen. Dann wirst du auch gerne das weitergeben, was er dir gegeben hat: seine Liebe. Dann geht von dir seine Liebe aus.

Amen