Jesus und der Schriftgelehrte – diesmal ganz anders

Predigtreihe I – 25.08.2019
10. Sonntag nach Trinitatis, Israelsonntag
Wochenspruch: Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!
Predigtwort: Markus 12,28-34

Predigt

Liebe Gemeinde,

wir feiern heute also den sogenannten Israel-Sonntag. Und für unsere Kirche ist es daher naheliegend einen Text auszuwählen, der nicht spaltend wirkt, sondern das Verbindende zwischen Christen und Juden herausstellt. Unser Predigttext aus dem Markus-Evangelium ist so eine Stelle. Er steht im 12. Kapitel:

28 Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?
29 Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,
30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft«.
31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm;
33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
34 Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Das Gespräch über das sogenannte Doppelgebot der Liebe wird im Matthäus-Evangelium bei Lukas und eben bei Markus erzählt, aber sehr unterschiedlich. Nach einem sicherlich nicht umfassenden Bibelstudium fand ich heraus, dass die theologische Auslegung überwiegend davon ausgeht, dass es sich um eine Begebenheit handelt. Und sie wird deswegen so unterschiedlich erzählt, weil die Evangelisten für unterschiedliche Personengruppen geschrieben haben. Dass dies grundsätzlich so ist, ist nicht zu bestreiten. Für unseren Bibeltext ist das für mich allerdings nicht nachvollziehbar. Denn die Unterschiede erscheinen mir zu groß.

Bei Matthäus ist von einem Pharisäer die Rede, der Jesus „versuchen“, also auf die Probe stellen wollte. Nach der Frage gibt Jesus sich sehr zugeknöpft und antwortet kurz und bündig. Ohne große Umschweife zitiert er das Doppelgebot der Liebe. Und danach war das Gespräch auch beendet.

Bei Lukas will ihn ebenfalls ein Pharisäer reinlegen. Dieser frägt Jesus allerdings, wie er das ewige Leben gewinnen kann. Und Jesus lässt ihn ziemlich abblitzen. Übersetzt mit meinen Worten antwortet Jesus: Was soll das Gerede. Das weißt du doch selber, was steht im Gesetz. Darauf antwortet der Pharisäer mit dem Doppelgebot. Jesus darauf ganz trocken: na also, dann mach es halt. Erst jetzt merkt der Pharisäer, dass er voll in die Falle getappt ist und will sich mit der Frage nach dem „Nächsten“ herausreden worauf Jesus mit dem sehr bekannten Gleichnis des barmherzigen Samariters antwortet.

Wie anders ist es bei Markus. Der Schriftgelehrte will Jesus nicht reinlegen. Er sucht das wirkliche Gespräch und es wird ein Gespräch und am Ende geht man einvernehmlich, ja in Frieden auseinander. Die Fragen und Antworten sind fast identisch und doch ist es ganz anders.

Kennen Sie den Film Notting Hill? Er kam vor 20 Jahren in die Kinos. Und bei der Vorbereitung musste ich genau an diesen Film denken, bzw. an eine bestimmte Szene. Für die, die den Film nicht kennen, eine kurze Zusammenfassung: Eine sehr berühmte Schauspielerin, gespielt von Julia Roberts trifft in London zufällig den erfolglosen Buchhändler, gespielt von Hugh Grant. Der unerreichbare Superstar verliebt sich in den putzigen Buchhändler und natürlich umgekehrt. Aber es kann nicht funktionieren, ihre Welten sind zu unterschiedlich. Am Schluss, welch Überraschung, kommen sie nach vielen Irrungen und Wirrungen doch zusammen. Was für ein schönes Märchen.

In diesem Film gibt es die Szene, in der Julia Roberts ihren neuen Film promoten musste. Sie müssen sich das so vorstellen: es werden unzählige Journalisten zu einem großen Interview-Marathon eingeladen. Man kann sich gut vorstellen, dass den Stars von den unterschiedlichen Journalisten immer wieder die gleichen Fragen gestellt werden und jeder kommt sich super originell vor. Aber hinter jedem Journalisten steckten bei der gleichen Frage unterschiedliche Beweggründe. Dem einen gefällt der Film überhaupt nicht oder er kann die Schauspielerin nicht leiden. Er will beides nur in die Pfanne hauen. Der zweite macht nur seinen Job und ist froh über die Häppchen und den Sekt. Und ein anderer, im Film war es unser Buchhändler, der durch Zufall in diese Situation hineingeraten ist, ist hingerissen von dem großen Star und will wirklich was von und über ihn wissen, auch wenn er die gleichen, banalen Fragen stellt.

Auch wenn es nicht die gängige Lehrmeinung ist, ich denke, diese Frage nach dem größten Gebot war für die damaligen Juden so wichtig, dass sie Jesus bestimmt zig mal gestellt wurde. Und im Markus-Evangelium war es ein Schriftgelehrter, der wirklich an Jesus interessiert war. Das merkte natürlich auch Jesus, dessen Antwort irgendwie anders war als gegenüber denen, die ihn nur reinlegen wollten.

Der erste Teil der Antwort ist ein Zitat aus dem 5. Buch Mose. Im Gegensatz zu den Erzählungen Matthäus und Lukas beginnt Jesus seine Antwort ganz in der Tradition der Juden mit einem Lobpreis an den Herrn und Gott des Volkes Israel:

»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,

Diese Formulierung ist in den späteren Schriften des Neuen Testamentes verloren gegangen. Dann folgt erst das bekannte und heiligste Gebot gegenüber Gott mit den Worten:

du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft«

Das Gebot, das zur Nächstenliebe aufruft, ist ein Zitat aus dem 3. Buch Mose und steht am Ende einer Aufzählung verschiedenster Gebote für die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Damit werden diese alle zusammengefasst.

Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« sagt Jesus.

Damit ist das Gespräch aber nicht zu Ende wie bei Matthäus. Der Schriftgelehrte will sich auch nicht rechtfertigen wie bei Lukas, sondern er stimmt Jesus zu und bestärkt das Gesagte. Du hast vollkommen recht, sagt der Schriftgelehrte. Gott und seinen Nächsten lieben wie sich selbst ist viel mehr wert

als alle Brandopfer und Schlachtopfer.

Man muss dabei bedenken, dass der Pharisäer und Schriftgelehrte damit ja auch einen Teil seiner Lebensgrundlage in Frage stellte. Denn wer profitierte denn am meisten von all dem Opferkult? Es war die damalige fromme Elite.

Diese Aufrichtigkeit erkennt Jesus und daher beschließt er, das Gespräch mit einem Satz, den er gegenüber einem Schriftgelehrten selten, vielleicht sogar gar nicht ausgesprochen hat:

Du bist nicht fern vom Reich Gottes.

Was für eine Unterhaltung!

Nun, wie ging es denn mit Jesus und diesem Schriftgelehrten weiter? Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, ob er weiter ein rechtschaffener Schriftgelehrter und somit Jude in unserem heutigen Sinne geblieben ist oder ob er sich dann doch dieser Sekte, diesen Christen angeschlossen hat. Wir wissen aber, wie es mit Jesus und der frommen Elite weiterging, die Jesus misstrauten, für die Jesus eine Gefahr darstellte. Sie haben alles Notwendige in die Wege geleitet, damit Jesus unschädlich gemacht wurde, damit Jesus am Kreuz sterben musste, wohlgemerkt nicht das jüdische Volk insgesamt, sondern eine fromme Elite gemeinsam mit den Römern. Und als die Christen endlich an der Macht waren, haben sie es ihnen heimgezahlt. Und das durch zwei Jahrtausende hindurch.

Ja, wie wäre es gewesen, wenn Juden und Christen ganz im Sinne Jesus und unserem Schriftgelehrten das Doppelgebot der Liebe wirklich beherzigt hätten. Denn für Juden und Christen galt es vor 2000 Jahren, während der letzten 2000 Jahre und heute mehr als je zuvor

Warum hat es nicht geklappt und klappt auch nach wie vor so schlecht? Natürlich könnte man nun endlos viele Gründe aufzählen. Schauen wir uns diese Unterhaltung zwischen Jesus und den Schriftgelehrten noch einmal an.

Jesus und der Schriftgelehrte haben sich am Anfang des Gespräches nicht schon gegenseitig in Schubladen gesteckt. An der Stelle von Jesus wäre es verständlich gewesen, wenn er sich zu Beginn des Gespräches gedacht hätte: Ach Schriftgelehrter, schon wieder, du willst mich doch sowieso nur reinlegen. Und für den Schriftgelehrten war es sicherlich nicht einfach, sich von der feststehenden Meinung seiner Kollegen frei zu machen, damit er diesem Mann noch unbefangen gegenübertreten kann. Ein Urteil über einen anderen kann ich mir erst dann bilden, wenn ich den anderen kennengelernt habe. Ansonsten ist es ein Vorurteil. Und diese verhindern meist das Kennenlernen und die Begegnung.

Des Weiteren sind sich hier zwei Menschen auf Augenhöhe begegnet. Hier war es nicht der Messias, der zu dem Schriftgelehrten gesprochen hat, sondern Jude zu Jude. Das wird aus der Eingangsformel ersichtlich. Mit dem allgemein üblichen Lobpreis

Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,

wird ausgedrückt: Wir reden vom gleichen Gott. Er ist unser gemeinsamer Vater, wir sind nicht so weit auseinander wie es uns die anderen einreden wollen. Es kann sein, dass sich im Laufe des Gespräches herausstellt, dass wir zu bestimmten Themen unterschiedliche Ansichten haben. Dann wollen wir das nicht glatt bügeln, sondern stehen lassen und aushalten. Aber lass uns das Gespräch doch erst einmal so beginnen, dass der eine nicht klüger oder mehr wert ist als der andere.

Womit wir am Ende des Gespräches sind. Im Gegensatz zu all den anderen Diskussionen zwischen Jesus und den Schriftgelehrten drücken sie sich gegenseitig ihre Hochachtung, ihren Respekt aus.Ja, Meister, du hast recht geredet! sagt am Schluss der Schriftgelehrte zu Jesus und dieser antwortet: Du bist nicht fern vom Reich Gottes.

Wenn es nach einer Diskussion mit Andersdenkenden Punkte gibt, in denen man übereinstimmt, dann darf, ja soll man das auch sagen. Eine Übereinstimmung in einzelnen Themen heißt ja nicht, dass es keine Differenzen mehr gibt. Wir wissen nicht, ob dieser Schriftgelehrte später Jesus als Messias der Juden, ja der ganzen Welt annahm. Aber darüber wurde ja auch nicht gesprochen und trotzdem sagt Jesus zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes.

Ja, aufrichtig und ehrlich und offen gegenüber den anderen zu sein ist oft schwer. Und wenn man das nicht schafft, gehen Beziehungen in die Brüche.

Das mussten auch unser Superstar und der Buchhändler in Notting Hill erfahren. Da hatte sie noch eine Beziehung, als sie mit dem Buchhändler bereits etwas Neues anfangen wollte und er hatte zum Beispiel ein Gespräch mit angehört, das für ihn nicht bestimmt war. Das hat natürlich zu Verletzungen geführt und die Beziehung ging verbunden mit vielen Schmerzen erst einmal auseinander. Aber am Schluss, nachdem die Verletzungen geheilt waren und die vielen Missverständnissen geklärt waren, hatten sie doch ihr gemeinsames Paradies auf Erden gefunden.

Aber Spaß beiseite. Juden und Christen werden sich am Ende der Tage auch wieder finden. Denn gemeinsam glauben wir an die Wiederkunft des Messias. Und dann wird es keinen Streit mehr darüber geben, ob er wirklich der richtige Messias ist. Gemeinsam glauben wir daran, dass Gott die Welt von allem Übel befreien wird und wir dann gemeinsam die Herrlichkeit und das wirkliche Paradies erleben dürfen. Bei allen Differenzen, die zweifelsohne heute noch zwischen Christen und Juden bestehen. Überlassen wir es Gott, wie er es herrlich hinausführt.

Amen.