Bayreuth, den 21.05.2020 Johannes 17,20-26

Liebe Gemeinde! 

Der letzte Wille eines Menschen ist den Angehörigen in der Regel heilig. Sie fühlen sich verpflichtet ihn zu erfüllen. Wenn ein gültiges Testament da ist, dann muss man den letzten Willen erfüllen. Aber auch wenn keines da ist, dann fragen sich oft die Angehörigen: „Wie hätte er es denn gewünscht? Was hätte sie gewollt?“

Wie lautet eigentlich der letzte Wille von Jesus für seine Jünger? Ich habe ihn gerade vorgelesen. Es sind die letzten Worte Jesu, die er beim Abendmahl seinen Jüngern sagte. Nach diesen Worten, so heißt es hier bei Johannes, ging er mit ihnen über den Bach Kidron hinauf auf den Ölberg zum Garten Gethsemane. Dort betete er. Dort wurde er auch verhaftet.

Jesu letzter Wille an seine Jünger ist kein Testament. Warum auch? Heute an Christi Himmelfahrt da feiern wir, dass Jesus lebt. Er ist auferstanden und zu seinem Vater im

Himmel zurückgekehrt. Er ist nicht tot und wird nie mehr sterben. Er ist bei seinem Vater im Himmel. Und da der Himmel überall dort ist, wo Menschen an ihn glauben und ihn in ihr Leben hineingelassen haben, ist er auch bei ihnen. Unsichtbar aber oft spürbar ist er bei denen, die ihn als ihren liebenden Herrn kennengelernt haben. Er hat ihnen ihre Sünden vergeben. Durch die Vergebung ist die Verbindung zu ihm und seinem Vater hergestellt. Immer wieder bekommen sie von ihm Lebenszeichen. Das sind seine Worte, die in der Bibel stehen oder in einer Predigt zu hören sind.

Jesus lebt. Von Himmel aus regiert er die Welt. „Seiner Herrschaft wird kein Ende sein“, heißt es im Nicänischen Glaubensbekenntnis. „Er sitzt zur Rechten Gottes“, sprechen wir es jeden Sonntag und auch heute im Gottesdienst. Und er greift immer wieder als Herr und König in das Weltgeschehen ein und auch in unser Leben.

Jesu letzter Wille an seine Jünger ist also kein Testament, sondern ein Gebet. Er betet für seine Jünger und ausdrücklich auch für uns! Es heißt hier ja: Jesus betet auch für die, die durch seine Anhänger an ihn zum Glauben kommen. Damit sind ja auch wir gemeint. Wir gehören ja auch zu denen, die durch die Jahrhunderte hindurch durch die Botschaft der Jünger zum Glauben an Jesus gekommen sind. Johannes hat dieses Gebet aufgeschrieben. Es war ihm wichtig, dass alle, die einmal sein Evangelium lesen, auch diese Worte lesen. Wir auch.

Und was ist denn nun der letzte Wille Jesu an seine Jünger und an alle, die einmal an ihn glauben werden? Er bittet seinen Vater darum, dass sie alle eins seien.

Die Einheit, die tiefe Verbundenheit seiner Anhänger liegen Jesus sehr am Herzen. Und gerade da hapert es, Schon in den ersten Jahrhunderten gab es verschiedene Kirchen und Glaubensrichtungen. Weltweit soll es heute etwa 42.000 verschiedene Konfessionen geben, eine unglaubliche Zahl. Wenn nun diese 42.000 Konfessionen sich alle einig wären, wäre das ja alles nicht so schlimm. Aber das ist ja meist nicht so. Es gibt zwar Gott sei Dank keine Glaubenskriege mehr. Aber die Glaubensunterschiede zwischen den einzelnen Kirchen haben sich nicht geändert. Diese unendliche Zersplitterung der Christenheit war ja auch der Anlass der ökumenischen Bewegung. Aber dadurch ist ja auch keine Einheit, dass man Ökumene möchte. Man ist sich ja nicht einmal darüber einig, was „Ökumene“ überhaupt bedeutet. Nach katholischer Lesart bedeutet Einheit die Rückkehr zur katholischen Kirche mit dem Papst als geistlichem Oberhaupt. In der evangelischen Kirche versteht man daruntervmehr die Einheit in „versöhnter Verschiedenheit“. Egal. Ob so oder so wäre eine organisatorische Ökumene nicht die Einheit, von der Jesus hier sprach. Christentum existiert zwar immer schon als Organisation. Aber christliche Einheit bedeutet doch etwas Anderes als eine organisatorische Einheit. Was würde es nützen, wenn das Christentum eine weltweite Organisation wäre, aber die Christen untereinander wären sich nicht einig?

Einigkeit fängt ja schon bei der kleinsten organisatorischen Einheit an, bei der Ortsgemeinde, die sich Sonntag für Sonntag in den Gottesdiensten versammelt. Aber ist dadurch Einheit da, dass man auf den gleichen Stühlen sitzt und im gleichen Gottesdienst ist? Ist dadurch Einheit vorhanden, wenn man bei einem Gemeindefest oder einem Sommerfest der verschiedenen Gemeindegruppen das gleiche Steak und die gleichen Bratwürste isst, das gleiche Bier und die gleiche Limo trinkt und bei einer Weihnachtsfeier den gleichen Glühwein schlürft und die gleichen Plätzchen knabbert?

Das alles sind zweifellos gemeinschaftsfördernde Maßnahmen. Nichts gegen gutes Essen und Trinken mit Christen. Und es ist etwas Schönes, wenn es unter Christen eine gute Gemeinschaft und auch Freundschaft gibt. Aber ist es das, was Jesus hier in seinem Gebet unter Einheit verstand?

Einheit ist da, wo Liebe ist, selbstlose Liebe, wo einer dem andern hilft und dient und ihn achtet. Daran fehlte es schon bei den ersten Jüngern. Vor der letzten großen Rede an seine Jünger und vor diesem grandiosen Gebet, dem unser Predigttext entnommen ist, kam es ja zu einer hässlichen Szene. Die Jünger stritten, wieder einmal. Es ging darum, wer der Größte und Bedeutendste unter ihnen war. Da erteilte ihnen Jesus eine Lektion. Er, der ja der Größte und Bedeutendste war, übernahm einen äußerst geringen Dienst. Vor dem Abendmahl wusch er seinen Jüngern die Füße. Niemand der Anwesenden fühlte sich für diese Drecksarbeit zuständig. Eigentlich wäre das Aufgabe eines Dieners gewesen und zwar des geringsten. Aber Jesus übernahm diesen Dienst selber, freiwillig, aus Liebe zu seinen Jüngern.

Auch unter Christen gibt es Vieles, was die Einigkeit stört oder gar zerstört: Da wollen zum Beispiel einige eine Sonderrolle spielen. Sie meinen, sie sind von ihrer Stellung und Begabung her etwas Besonderes. Da kommt es natürlich leicht mit anderen zu Streit oder Neid. Und wenn mehrere gleichzeitig diese Sonderrolle spielen wollen, wird es besonders schwierig. Da kommt es erst recht zu Streit. Oder da gibt es welche, die fühlen sich von den anderen nicht wertgeschätzt. Sie kommen mit ihren Ideen nicht durch oder trauen sich nicht, sie zu äußern. Als Folge ziehen sie sich gern zurück, schmollen, beobachten, kritisieren oder trennen sich gar von der Gemeinde.

Der bekannte ugandische Bischof Festo Kivengere schreibt in seiner Autobiographie zu diesem Thema folgendes Bedenkenswertes:

„Jede Gruppe, die in Liebe zusammenleben und arbeiten will, ist in Gottes Werkstatt. Der Heilige Geist hat Werkzeug und Ausrüstung, um jedes wichtige Teil in die richtige Form zu bringen. Da gibt es solche, die sich für besonders groß halten und unter ihrer Einbildung leiden. Sie, aber auch diejenigen, die sich für ganz unbedeutend halten und unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden, sie alle müssen auf die richtige Größe gebracht werden – seine Größe.

Wenn die Kugeln in den Kugellagern der Räder eines Fahrrads genau die dieselbe Größe haben, dann kommt man gut vorwärts. Aber wenn einige Kugeln größer, andre kleiner sind, dann knirscht und kracht es, und man kommt mit dem Fahrrad nirgendwo hin. Der Herr ist ständig dabei, seine „Kugellager“ aufeinander abzustimmen.“

Und wie tut er dies? Durch seine Liebe. Zwischen Jesus und seinem Vater bestand ja eine innige, liebevolle enge Beziehung. Jesus war in ihm und umgekehrt der Vater in ihm, heißt es hier in unserem Predigttext. Genauso soll es nun auch bei denen sein, die an ihn glauben. Die gleiche enge und liebevolle Beziehung zwischen dem Vater und Jesus soll nun auch zwischen Jesus und den Gläubigen sein und dann auch untereinander.

Die gemeinsame Erfahrung der Liebe Jesu ist also die Grundlage für die Einigkeit unter den Christen.

Die Herrnhuter Brüdergemeine hat diese Wahrheit in einer kritischen Phase ihrer Gründungsjahre so erlebt. Graf Zinzendorf hat ab 1722 erlaubt, dass auf seinen Ländereien Glaubensflüchtlinge leben konnten. Dies waren nun ganz verschiedene Leute, die auch ganz verschiedenen Konfessionen angehörten.

Dies führte schon bald zu tiefgreifenden Spannungen. Im Jahr 1727 kam es zu einer tiefgreifenden Krise in Herrnhut. Es kam zum Streit. Einige Gruppierungen wollten sich von der Gemeinde trennen.

Am 13. August 1727 schließlich fand in der Kirche des benachbarten Berthelsdorf eine Abendmahlsfeier statt. Bei diesem Gottesdienst fanden die zerstrittenen Herrnhuter wieder zusammen und legten ihre Konflikte endgültig bei. Es war eine ganz besondere Feier. Der Heilige Geist sei über sie gekommen, so sagten sie über dieses denkwürdige Ereignis. „Wir brachten diesen und den folgenden Tag in einer stillen und freudigen Fassung zu und lernten lieben“, heißt es im Tagebuch der Gemeine. Diese Abendmahlsfeier gilt als Gründungsakt der Herrnhuter Brüdergemeine, die ihr Wirken bald in alle Welt ausdehnte.

Sie lernten lieben. Die Streitigkeiten, die sie vorher trennen wollten, waren vorbei. Und es begann eine Zeit der großen Wirksamkeit dieser so kleinen Gemeinde. Weltweit wurden Missionare von Herrnhut ausgeschickt. Viele Menschen weltweit hörten durch sie das Evangelium.

Heute feiern wir nach vielen Wochen wieder hier in unserer Kirche das Abendmahl. Jesus will uns darin mit seiner Liebe begegnen. Wir dürfen Vergebung erfahren und einen Neuanfang in unserem Glauben. Und wir können heute im Abendmahl auch wie damals in Berthelsdorf neu lieben lernen.

Wir alle brauchen die gleiche Liebe Jesu. Da gibt es keinen, der mehr oder weniger davon nötig hat. Wir alle sind Sünder, keine kleinen, sondern große. Dieses Wissen macht demütig und offen für die Erfahrung der Liebe Jesu. Da muss sich niemand minderwertig vorkommen und niemand als etwas Besonderes. Dadurch entsteht Einigkeit untereinander.

Grundlage für die christliche Gemeinschaft kann nicht rein menschliche Sympathie sein, nicht der natürliche Geselligkeitstrieb. Eine Gemeinde ist kein Verein zur gemeinsamen Freizeitgestaltung und zur Kultivierung religiöser Gefühle. Die Grundlage christlicher Gemeinschaft ist die gemeinsame Erfahrung der Liebe Gottes in der Vergebung der Sünden. Wo die nicht vorhanden ist, fehlt das Entscheidende.

So, als Sünder, will Jesus uns haben, die immer abhängig sind von seiner Liebe. Als Sünder dürfen wir auch einmal in den Himmel, wo er schon ist.

Stellen wir uns einmal vor, wie Jesus bei der Himmelfahrt in den Himmel zurückkommt. Um den Thron Gottes sind die Engel Gottes und die Heiligen des Alten Testamentes versammelt. In der Ferne taucht Jesus auf. Er kommt nicht allein. Eine Gestalt geht neben ihm. Nun wird am Thron Gottes überlegt, wer das wohl sein könnte, den Jesus mit in den Himmel bringt.

Abraham sagt: Das ist Maria, die zu den Füßen von Jesus gesessen und seinen Worten zugehört hat. Mose meint, das sei gewiss der Anführer der Jünger, der Petrus. David entscheidet: Es ist der Lieblingsjünger Johannes.

Jesus kommt näher und nun erkennen sie, wer in seiner Begleitung ist. Es ist der Terrorist, der mit Jesus gekreuzigt wurde. Der Verbrecher, dem Jesus versprochen hat: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“

Und Jesus sagt zu seinem Vater, der ihn wieder empfängt: „Das ist der Erste, den ich bei mir in meiner Nähe haben möchte, immer, in Ewigkeit. Es kommen noch mehr. Und – so ähnlich sind sie alle.“

Sicher, so wie ich es erzählt habe, ist es eine kindliche Vorstellung. Aber sie entspricht den Worten Jesu, die er hier in unserem Predigtabschnitt als Gebet spricht: „Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast.“ Jesus möchte also in diesem Gebet seinem Vater die Gemeinschaft von Sündern, also auch unsrige, schmackhaft machen. In die Herrlichkeit des Himmels möchte Jesus Verbrecher wie den Terroristen am Kreuz mitbringen, Versager, Menschen, die Liebe schuldig geblieben sind, die nicht vertraut, sondern gezweifelt haben, die immer wieder Gott enttäuscht haben, andere Menschen, und sich selber auch, also Menschen wie dich und mich.

Eine solche Gesellschaft mutet er seinem Vater zu. Und Gott lässt sie sicherlich in den Himmel hinein. Denn Jesus hat ja gerade Sünder ohne Einschränkung geliebt. Gott Vater kann ihm die Bitte nicht abschlagen, dass die Menschen bei ihm sein dürfen, die sich mit Jesu Liebe haben beschenken lassen. Wer Vergebung angenommen und sein Leben lang von der Vergebung gelebt hat, der darf nun auch in Ewigkeit bei Gott sein.

Diese Liebe Jesu und nicht eine etwa persönlich erworbene Heiligkeit, wird das Markenkennzeichen derer sein, die einmal in den Himmel ankommen. Wir dürfen uns heute neu auf diese Liebe einlassen. Dazu sind wir eingeladen, auch und gerade beim Abendmahl. Wenn wir Brot und Wein empfangen, dürfen wir es wieder glauben: Er, Jesus kommt zu uns. Er kommt in uns hinein. Wir dürfen mit ihm eins werden, so wie er mit seinem Vater eins ist und so auch mit dem anderen, der mit uns zum Abendmahl geht, eins sein.

Amen