Bayreuth, den 19.07.20 5. Mose 7,6-12

Liebe Gemeinde! 

Die Juden sind schon ein ganz besonderes Volk. Das kann, so denke ich, niemand leugnen. Es ist zwar klein und umfasst nur ein paar Millionen Menschen. Es bewohnt einen Küstenstreifen am östlichen Mittelmeer, der nicht größer als das Bundesland Hessen ist. Die Entfernungen sind sehr klein. Jeder weiß das, wer schon einmal dieses Land besucht hat.

Doch so klein dieses Volk auch ist: Das am meisten verbreitete Buch, die Bibel, handelt fast ausschließlich von Juden, das Alte wie das Neue Testament. Der Staat Israel, in dem die Juden wohnen, steht immer wieder im Mittelpunkt des Weltinteresses.

Die Juden sind nicht nur ein besonderes Volk. Es ist, so sagt es hier in unserem Predigtabschnitt Mose, ein von Gott erwähltes Volk. Es ist ein Wunder, wie dieses Volk entstand. Der Stammvater war Abraham. Seine Frau Sara hätte eigentlich kein Kind mehr gebären können. Aber trotzdem geschah es, durch ein Eingreifen Gottes. So wurde Isaak geboren. Durch die Generationen hindurch entstand das Volk Israel. Es ist auch ein Wunder Gottes, dass dieses Volk noch existiert. Mehrfach sollte es ausgelöscht werden. Wir Deutsche haben ja auch einen unrühmlichen Beitrag zu diesen Versuchen geleistet. Aber es ist nicht gelungen. Trotz allem unfassbar Schrecklichen, das diesem Volk widerfahren ist, existiert es bis auf den heutigen Tag, seit über 70 Jahren sogar wieder im Land Israel.

Warum hat sich Gott gerade dieses Volk erwählt? Es lag nicht an seiner Größe, sagt hier Mose. Es war im Gegenteil sehr klein. Als Begründung steht hier in unserem Predigttext: Gott hat es geliebt. Um es so auszudrücken: Gott hat sein Herz an dieses Volk verloren. Und dafür gibt es keine Begründung und braucht es auch keine Begründung. Gott kann in freier Souveränität sich zu dem zuwenden, den er will. Denn er ist Gott. Warum nicht die Ägypter, die Träger der damaligen Hochkultur? Warum nicht die mächtigen Babylonier oder die klugen Griechen? Das ist Gottes Geheimnis. Es war halt so.

Auch bei der menschlichen Liebe ist das ähnlich. Wenn eine Frau ihren Mann fragen würde: „Warum liebst du mich eigentlich?“ kann der Arme eigentlich nur eine falsche Antwort geben. Wenn er hilflos mit den Achseln zucken würde, wäre es falsch. Denn sie würde wohl denken: Was habe ich nur für einen Mann geheiratet, der mir diese Frage nicht beantworten kann. Und wenn er sagen würde: „Wegen deiner Schönheit oder Klugheit“, wäre es auch falsch. Dann könnte sie ja erwidern: „Wenn ich diese Eigenschaften nicht oder nicht mehr haben würde, würdest du mich also nicht mehr lieben?“ Die richtige Antwort kann nur lauten: „Ich liebe dich, weil ich dich liebe!“

So wählt auch Gott, weil er liebt. Und er liebt, weil er eben nicht begründbar liebt. So war und ist das nicht nur beim Volk Israel so. Er hat auch Sie erwählt, dich erwählt. Da bin ich mir ganz sicher. Sonst würden Sie heute nicht hier sitzen. Sonst würden Sie nicht diese Botschaft von der Liebe Gottes hören. Auch heute gilt noch: Er hat mit Ihnen, so wie mit dem Volk Israel etwas Besonderes vor. Was das ist, möchte ich anhand einer Geschichte, einem Gleichnis erklären:

Da ist ein kleiner Junge. Er lebt in einem Waisenhaus. Seine Eltern kennt er nicht. „Voll-Waise“ - so steht es in seinen Papieren. Das ist sein Stand. Und den kann er aus sich heraus nicht ändern - auch durch Anstand nicht, um den er sich im Waisenhaus redlich bemüht. Wie Strandgut kommt er sich vor, vom Meer des Zufalls an Land gespült. Im Spiel mit den anderen Kindern hält er sich manchmal für ein Königskind, das alle beneiden und auf das ein reiches Erbe wartet. Aber wofür er sich auch hält - er bleibt, was er ist: ein mutterloses Kind, ein vaterloser Geselle, eben ein Waisenkind.

Auf einem hohen Berg gegenüber dem Waisenhaus sieht das Kind Tag für Tag ein wunderschönes Schloss. Oft träumt der Junge davon, in diesem Schloss zu wohnen. Er wäre so gern ein Königskind, auf das ein reiches Erbe wartet. Aber das ist natürlich nur ein Traum.

Da taucht eines Tages ein Fremder im Waisenhaus auf. Er kommt auf das Kind zu, sieht es freundlich an, gibt ihm die Hand, so, als kennen sie sich schon lange. „Du hast ab heute ein neues Zuhause“, sagt der Fremde. Das Kind versteht nicht. „Du bist kein Waisenkind mehr.“ Das Kind begreift immer noch nicht. „Siehst du das Schloss dort drüben auf dem Berg?“, fragt der Fremde. Das Kind nickt. „Das ist dein neues Zuhause. Ich wohne dort. Und du darfst jetzt auch dort wohnen. Ich bin der König und habe dich erwählt, mit mir zu leben. Du bist kein Waisenkind mehr. Du bist ab heute mein Kind, ein Königskind. Magst du?“

Das Kind traut seinen Ohren nicht. Er ein Königskind? Sein Traum soll Wirklichkeit werden?

Klingt wie ein Märchen. Ist es auch. Trotzdem eine wahre Geschichte. Das Kind von der Straße wird zu einem königlichen Menschen. Der sündige, von Gott getrennte Mensch wird ein Kind Gottes. Das ist also das Ziel der Erwählung Gottes. Er will Menschen zu sich ziehen, will sie zu seinen Kindern machen. Das sind wir nämlich nicht von Natur aus. Von Natur aus sind wir verlorene Menschen, Menschen, die keinen Anspruch darauf haben, dass sie einmal mit Gott die Ewigkeit verbringen können, dass sie einmal in den Himmel kommen. Damit das geschehen kann, können wir nichts dazu tun. Das muss Gott machen. Deshalb hat auch Jesus einmal zu seinen Jüngern den staunenswerten Satz gesagt: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“

Er hat sie sich also ausgesucht, erwählt. Welche Auswahlkriterien hat er wohl gehabt? Wenn ein Personalchef bei einem Auswahlgespräch die Bewerber auf die Arbeitsstelle vor sich hat, ist klar, wie er auswählt. Die entscheidenden Kriterien werden die Qualifikation und die Leistungsfähigkeit sein oder die Teamfähigkeit und entsprechende Erfahrungen auf dem Arbeitsgebiet. Und wenn im Sportunterricht die zwei Sportasse einer Klasse sich jeweils eine Fußballmannschaft auswählen, dann ist klar, dass sie zuerst die guten Fußballspieler zu sich rufen und nicht die, die einen Fußball nicht von einer Billardkugel unterscheiden können.

Und wie sieht dieses Auswählen bei Jesus aus? Ruft er die besonders Intelligenten zu sich, die Motivationsgenies, die mitreißenden Redner und Macher? Nein, unter den Jüngern sind keine besonderen Leute. Etliche Fischer vom See Genezareth waren dabei, vielleicht noch ein paar Handwerker und Bauern, aber keine Elite, keine Spitzenwissenschaftler und Spitzenpolitiker, sondern ein paar Spitzbuben wie der Zolleinnehmer Matthäus. Unter seinen Anhängern war sogar ein Spitzengauner wie der Oberzöllner Zachäus. Sicher, später erwählte sich Jesus noch einen hoch begabten und frommen Theologen wie Paulus zu seinem Apostel. Aber diese Frömmigkeit, so erkannte Paulus, war einen Dreck wert. So hat er es fast wörtlich im Philipperbrief formuliert. Außerdem litt er unter einer besonderen Schwäche. Welcher Art sie war, wissen wir nicht. Paulus deutet sie in einem seiner Briefe nur an.

So sind also die, die wie die Jünger Jesus am nächsten stehen: oftmals schwach, sündig, unbedeutend, keine besonders einflussreichen Leute. „Dem, der Gott nichts bieten kann, bietet Gott die Freundschaft an...“ heißt es einem Liedvers.

Dieser Wesenszug Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Heilsgeschichte in der Bibel, in der Kirchengeschichte und der heutigen Zeit. Gott erwählte sich einen Jakob, der seinen Bruder Esau betrog, den hochmütigen und prahlerischen Joseph, der sich für besser als seine Brüder hielt, den Totschläger Mose, den Ehebrecher David. Im Neuen Testament suchte sich Jesus den großspurigen aber doch, als es darauf ankam, feigen Petrus heraus, einen Mörder am Kreuz, den Christenverfolger Paulus. In der Kirchengeschichte erwählte er sich den Playboy Augustin oder einen wegen seiner Sünde umgetriebenen Bettelmönch Martin Luther. So könnte man Beispiel an Beispiel reihen, die alle nur eines belegen würden: Gott sucht sich in seiner freien Souveränität oft gerade die heraus, die seine Liebe gar nicht verdienen.

Die Erklärung für dieses menschlich gesehen merkwürdige Verhalten lesen wir im 1. Korintherbrief Kapitel 1. Dort schreibt Paulus: "Das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, damit er zunichte mache, was etwas ist, auf dass sich vor Gott kein Fleisch rühme." Gott will allen menschlichen Stolz und alle fromme Überheblichkeit zerstören. Keiner soll sich etwas darauf einbilden können, dass Gott gerade ihn liebt. Die Liebe Gottes ist immer voraussetzungslos. Sie knüpft nicht an etwas an, was gottwohlgefällig ist. Ich kann mir die Liebe Gottes nicht verdienen.

Gott kann keinen Menschen gebrauchen, der sich auf sich selbst etwas einbildet, auf seine Fähigkeiten, seine Tüchtigkeit, Frömmigkeit und guten Taten. Gott benutzt nur solche Leute, die um ihre eigene Sünde und Schuld wissen, auch um ihre Grenzen und Schwächen. Nur solchen Menschen bietet er seine Freundschaft an, nur solchen kann er vergeben und sie auch verändern.

Wir können zu dieser Wahl Gottes nichts dazutun. Aber ich kann diese Wahl annehmen. Das ist ja in vielen Gremien so vom Bundestag angefangen bis zu einem kleinen Verein. Da wird von den Mitgliedern jemand für ein Amt vorgeschlagen und gewählt. Damit ist die Wahl aber noch nicht abgeschlossen. Sondern dann wird der Gewählte noch gefragt: „Nehmen Sie die Wahl an?“ Erst wenn er „Ja“ sagt, ist das Wahlverfahren beendet.

Gott hat auch Sie sich ausgewählt. Er möchte, dass ausgerechnet Sie sein Kind sein dürfen, das er mit seiner Liebe überschütten kann, angefangen mit seiner Vergebung, seinem Trost, seiner Hilfe und seinen Wundern, seiner verändernden Kraft, die sie fähig macht, der Sünde zu widerstehen und von ihr frei zu werden und mit der wunderbaren Aussicht, auf ewig mit ihm in seinem Reich zu leben. „Nehmen Sie die Wahl an?“ so fragt Gott auch Sie oder hat Sie schon längst gefragt. Sie brauchen nur „Ja“ zu sagen, dann ist das Wahlverfahren abgeschlossen. Sie gehören dann zu Gott, egal ob sie etwas fühlen oder nicht. Gefühle sind ja sehr unzuverlässig und zeigen auch nicht die Nähe zu Gott an. Wer traurig und verwirrt ist, ist nicht ferner von ihm als der, der fröhlich und getrost ist. Gefühle sind kein festes Fundament für die Beziehung zu Gott. Das ist allein die Wahl Gottes.

Es ist wunderbar, wenn jemand Erfahrungen mit der Liebe Gottes gemacht hat. Aber was ist, wenn einer wochenlang keine Erfahrungen mit ihr gemacht hat? Pausiert dann sein Christsein? Nein, Gott hat sich Sie erwählt und dabei bleibt es.

Als junger Mensch war es mir ganz groß, dass Gott mich als sein Kind erwählt hatte. Ich hatte das Vorrecht, dass ich durch meinen Konfirmationspfarrer ganz klar hören durfte: Du bist von Gott erwählt. Du darfst zu ihm gehören. Du darfst seine Nähe erfahren, ein Leben lang, bis du einmal bei ihm in seiner Ewigkeit bist.

Ich habe diese Wahl angenommen. Aber ich habe mich auch gefragt: Was ist denn mit den anderen, die nicht so deutlich wie ich von der Wahl Gottes gehört haben? Wieso ich und nicht andere? Die Antwort ist mir im Laufe der Jahre immer klarer geworden: Gott hat dich erwählt, damit du anderen auch davon erzählst, dass sie von Gott gewollt und geliebt sind. Gib ihnen, so gut du kannst, das weiter, was du von deinem Konfirmationspfarrer gehört hast.

Es ist ein besonderes Privileg zu erfahren und glauben zu können: Ich bin kein Waisenkind mehr, sondern ein Königskind, ein Kind Gottes. Und auch eine Verpflichtung. Wir kennen ja den Satz: „Adel verpflichtet.“ Gott schenkt uns seine Liebe, damit wir sie weitergeben und auch entsprechend leben, dass man an uns erkennt, wes Geistes Kinder wir sind.

Dazu gehört auch, dass man mit allen unguten Kompromissen bricht, die unser Christsein ersticken. Dies war zur Zeit Moses nicht anders wie heute. Damals sollte das Volk Israel ein Land einnehmen, das von sieben heidnischen Nationen bevölkert war. Mose warnt sein Volk vor der Gefahr der Anpassung. Sie sollten ja nicht deren oft freizügigen Lebensstil übernehmen und vor allen Dingen nicht ihre Götzen anbeten. Wer sich etwas in der Geschichte Israels auskennt, der weiß, dass dies tatsächlich immer wieder geschah.

Das Gottesvolk der Gegenwart steht auch in der Gefahr, dass es vom Zeitgeist geprägt wird, dass es nun nicht mehr Salz der Erde und Licht der Welt ist, wie Jesus in der Bergpredigt sagt.

Wir leben in einem Land, in dem die "Götter" Geld, Macht und Genuss angebetet werden. Es könnte sein, dass uns diese Lebenshaltung beeindruckt, weil sie uns Freiheit zu geben scheint. Aber wer sich diesem gottlosen Lebensstil anpasst, der kann schnell aus dem Blick verlieren, was Gott will und gefällt.

Vielleicht nimmt man es dann nicht mehr so genau mit dem Geschenk der Ehe. Man lebt schon vor der Eheschließung zusammen oder konsumiert Pornos, ohne zu bedenken, dass man dabei die Ehe bricht. Man schaut die gleichen Filme an, wie die, die nicht glauben oder hält sich in Gesellschaften, in denen Gott nur ein Störfaktor ist, auf und findet nichts dabei. Da denken altgediente Gemeindeglieder nicht daran, sich mit ihrem Nächsten auszusöhnen, auch wenn es der Ehepartner ist.

Mose hier in unserem Predigtabschnitt, Jesus, die Apostel und alle Gottesmenschen warnen vor so einem angepassten Lebensstil. Lassen Sie sich auch warnen. Und wenn Sie erkannt: Ja, ich bin so ein angepasster Christ, der sich nicht von anderen Menschen unterscheidet, die ohne Gott leben. Dann bitten Sie Gott um Vergebung. Er gibt sie Ihnen gern. Sie dürfen den Worten des Apostel Johannes glauben: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“

Amen