Bayreuth, den 02.08.2020 Johannes 9,1-7

Liebe Gemeinde! 

1912 wurde Woodrow Wilson zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Nach der Wahl besuchte er eine Tante, die er länger nicht mehr gesehen hatte. Sie fragte ihn, was er im Moment machte. „Ich bin gerade Präsident geworden!“, erzählte er. Die Tante fragte unbeeindruckt weiter: „Ach ja? Präsident wovon?“ „Von den Vereinigten Staaten!“ Die Tante wurde ungeduldig und erwiderte: „Hör auf mit dem Blödsinn!“ Sie konnte ihm nicht glauben, weil sie überzeugt war, ihn zu kennen. So geht es vielen Leuten auch mit Jesus. Damals wie heute. Zwischen sehen oder kennen und erkennen liegt ein Unterschied – auch bei folgender Begebenheit:

(Predigttext Johannes 9,1-7 vorlesen)

Wir alle haben unsere festgelegten Denkmuster, nicht nur die Tante von Woodrow Wilson, die es nicht für möglich hielt, dass ihr Neffe Präsident der Vereinigten Staaten war. Sondern auch die Jünger. Sie gingen mit Jesus zusammen an einem blinden Bettler vorbei. Er hat nie in seinem Leben etwas gesehen, blind geboren. Für die Jünger war der Fall klar: Das bedauernswerte Schicksal des Blinden ist Strafe für eine Sünde. Nur, wer hatte hier gesündigt? Der Blinde selbst? Aber dann wäre er ja schon bestraft worden, bevor er überhaupt Schuld auf sich laden konnte! Aber da gibt es ja noch die Eltern. Vielleicht haben die ja gesündigt.

Warum gerade der? Wir kennen diese Fragen ja auch. Warum ist gerade der arbeitslos geworden? War er vielleicht zu wenig dankbar für seinen Arbeitsplatz? Warum wurde gerade die krank? Hat sie mehr Schuld auf sich geladen als andere? Ich habe bei Krankenbesuchen solche Fragen schon oft gehört. Manchmal in Form eines Vorwurfes: Warum hat es ausgerechnet mich getroffen? Ich bin doch auch nicht schlechter als die anderen! Manchmal, aber eher selten, spielte für diese Frage ein schlechtes Gewissen eine Rolle: Habe ich was falsch gemacht, weil ich nun krank geworden bin?

Oder die Frage: Warum haben gerade diese Leute so große Schwierigkeiten mit ihren Kindern? Wahrscheinlich haben die Eltern sie nicht richtig erzogen. Warum trifft gerade diese Familie der Verkehrsunfall? Was stimmt denn bei denen nicht?

Nun sieht die Bibel zweifellos einen Zusammenhang zwischen Sünde und Strafe. Jesus heilte einmal einen Gelähmten am Teich von Bethesda und sagte dann zu ihm: „Sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.“ Auch die moderne Medizin sieht Zusammenhänge zwischen einer ungesunden Lebensweise und einer Erkrankung. Wer etwa am Tag 20 Zigaretten raucht, muss sich nicht wundern, wenn er einen Herzinfarkt bekommt. Es bestehen zweifellos Zusammenhänge zwischen Seele und Körper. Negative Gedanken wie Wut, Zorn, Groll oder Bitterkeit können krankheitsfördernd sein.

Aber ich kann nicht sagen, Krankheit oder andere schlimme Ereignisse hängen mit einer Schuld des Betreffenden zusammen. Das wäre unbarmherzig und auch falsch.

Dem bekannten Liedermacher Arne Kopfermann ist das wohl Schlimmste passiert, was ein Vater erleben kann. Bei einem Verkehrsunfall wurde seine eigene Tochter schwer verletzt. Und es war seine Schuld. Er hatte an einer Kreuzung ein Auto übersehen. Tausende beteten mit den Eltern um ein Wunder. Aber dieses Wunder geschah nicht. Die 10jährige Sara starb.

Warum geschah dieser Unfall? Warum hatte Gott kein Wunder der Heilung gemacht? Arne Kopfermann musste sich in dieser äußerst belastenden Situation wohl direkt oder indirekt so manchen Vorwurf von Christen anhören. Er selbst schrieb: „‘Die christliche Armee ist die einzige, die auf ihre Verwundeten noch schießt‘, hat jemand einmal überspitzt formuliert! Denn dem Leidenden wird eine doppelte Last auferlegt. Er muss nicht nur lernen, sein an sich schon schweres Los zu tragen, sondern sich auch noch Herz und Hirn zermartern, warum Gottes Zusagen nicht bei ihm greifen. Warum ‚Gottes vollkommener Plan‘ in seinem Leben nicht die verheißene Wirkung entfaltet und er keine Heilung erfährt.“

Die Antwort auf die Frage „Warum?“ ist oft ein Geheimnis Gottes, das er nicht lüftet. So auch hier in unserer Geschichte. Jesus geht gar nicht auf die Frage seiner Jünger ein. Nach seiner Antwort wissen wir immer noch nicht, warum der Mann blind geboren wurde. Jesus weist die Frage nach der Ursache der Blindheit zurück. Denn ihre Beantwortung hätte dem Blinden nicht geholfen. Die Jünger hätten vielleicht gestaunt und gesagt: „Groß ist deine Weisheit, ewiger Gott!“ – und wären weitergegangen.

Jesus gibt eine Antwort auf die Frage nach dem Ziel des Leidens. Er sagt seinen Jüngern, was Gott mit dem Blinden beabsichtigt.

Ist so eine Aussage nicht tröstlich? Wenn uns ein Leid getroffen hat, dann brauchen wir uns nicht mit der Frage nach dem Warum, nach der Ursache des Leidens herumschlagen. Wir sollten uns eher fragen, wozu es uns dienen soll. Damit sind noch lange nicht alle Fragen über den Sinn aller Leiden und die Rätsel aller schweren Lebensführungen gelöst. Nein, viele Fragen bleiben.

Aber wir dürfen uns mit der Gewissheit trösten lassen, dass Gott mit uns nichts Böses vorhat, sondern etwas Gutes. Gott liebt jeden einzelnen von uns, auch wenn es scheint, dass das Gegenteil der Fall ist. „Er wird es beweisen, Gott meint es gut“, heißt es in einem der Lieder von Jörg Streng. „Ihm dürft ihr vertrauen, habt fröhlichen Mut.“

Wahrscheinlich kam sich der blind Geborene in unserer Geschichte abgeschrieben vor, von den Menschen und von Gott. Gott hatte ihn, für was auch immer, bestraft. Das war doch offensichtlich. Doch dies war nicht der Fall. Jesus kreuzte seine Wege und sah ihn an. Der Sohn Gottes sah in ihm nicht nur eine bedauernswerte, armselige Gestalt, sondern einen Menschen, mit dem Gott noch etwas vor hat, dem er eine Zukunft schenken will. Sieh dich doch auch so an: Als einen Menschen, den Gott nicht abgeschrieben hat, sondern der dein Leben verändern will.

Auch bei dem Blindgeborenen in unserer Geschichte war das der Fall. Es war eine hoffnungslose Lage, in der er sich befand. Es war unmöglich, dass er jemals sehen konnte. Ein schlimmes Schicksal. Und doch hatte Gott, wohl von langer Hand geplant, etwas Wunderbares mit dem Blinden vor. Er soll sehen und zum Glauben an Jesus finden. „Die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden“, so drückt es Jesus hier in unserer Geschichte aus.

Das ist etwas anderes und noch viel mehr, als wenn er nur gesagt hätte: „Er soll wieder sehen.“ Das wäre schon auch sehr viel, ein Riesenwunder. Aber Jesus hat mit ihm noch viel Größeres vor. Nicht nur seine natürlichen Augen sollen geöffnet werden, sondern auch seine geistlichen. Er soll nicht nur die Natur, seine Umgebung, seine Eltern und alle anderen Menschen sehen, sondern er soll auch Jesus als den erkennen, der er ist, der Sohn Gottes, der Messias, der Heiland der Welt und auch sein persönlicher Retter.

Das ist das größtes Wunder, das einer erleben kann. Ist es auch schon bei dir geschehen?

Bei den Pharisäern von damals war es nicht der Fall. Für sie war der Fall klar. Wenn Jesus wirklich den Blinden geheilt hätte, dann wäre er in ihren Augen einer, der am Sabbat gearbeitet hätte. Aber einer, der sich mutwillig über Gottes Gebote hinwegsetzt, kann keine Wunder vollbringen. Also hat auch die Blindenheilung durch Jesus nicht stattgefunden. Und der Mann, der behauptet, geheilt worden zu sein, kann nur ein Lügner sein. Um mit dem Dichter Christian Morgenstern zu sprechen: So schließen sie „messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.“

Moderne Pharisäer gibt es heute noch. Jede Menge. Sie sind sich sicher: Die Blindenheilung, wie sie Johannes erzählt, kann nicht so geschehen sein. Denn Blindenheilungen gibt es ja gar nicht. Gott ist für sie nicht der Allmächtige, dem nichts unmöglich ist. Sondern er ist der Mittelmäßige und Gewöhnliche. Eigentlich kann er gar nichts, kann auch nicht in die Naturgesetze, die er selber geschaffen hat, eingreifen. Sondern er sitzt gewissermaßen untätig zu, was auf der Erde so passiert. Oder es interessiert ihn überhaupt nicht. Und wenn diesen modernen Pharisäern jemand etwas von Wunderheilungen erzählen würde, so würden sie wie die Tante von Woodrow Wilson sagen: „Hör auf mit dem Blödsinn.“

Pharisäern aller Zeiten ist noch etwas Anderes gemeinsam. Sie meinen nicht nur, genau über Gott Bescheid zu wissen und trauen ihm nichts zu. Sie meinen auch, über sich selbst genau Bescheid zu wissen. Sie halten sich für Menschen, die Gott auf ihrer Seite haben, weil sie sich nach seinen Geboten gerichtet haben. Sie haben sich im Großen und Ganzen nichts vorzuwerfen. Wenn es einen Himmel gibt, so meinen sie, kämen sie auf jeden Fall hinein. Und ihnen jemand sagen würde, das ist überhaupt nicht der Fall. Das ist eine falsche Sicherheit, würden sie auch mit den Worten abwinken: „Hör auf mit dem Blödsinn.“

Sie brauchen ja keine Vergebung, keine Gnade, keinen Erlöser, keinen Heiland, keinen Erlöser. Sie brauchen keinen, der für ihre Sünden am Kreuz gestorben ist. Sie brauchen keinen Jesus.

Sie mögen einen messerscharfen Verstand haben und gute, gesunde Augen. Aber trotzdem sind sie blind, blind für den eigenen verlorenen Zustand und blind für den heiligen und gleichzeitig barmherzigen Gott.

Diese Blindheit ist in ihren Auswirkungen viel furchtbarer als gewöhnliche Blindheit. Ein Mensch, der mit seinen natürlichen Augen nicht sehen kann, ist nur von der sichtbaren Welt getrennt. Aber ein Mensch, der das Wirken Gottes nicht sehen kann, ist von der unsichtbaren Welt Gottes getrennt, und das für alle Ewigkeit. Er geht verloren. Deshalb ist es nicht so sehr entscheidend, ob ich gesunde Augen habe, sondern vielmehr, ob mir die Augen für Gott aufgetan sind. Ich kann blind sein und doch Gott sehen. Und ich kann das natürliche Augenlicht besitzen und doch blind sein für Gott.

Es braucht ein Wunder, dass ein geistlich blinder Mensch sehend wird. Bis auf den heutigen Tag heilt Jesus körperlich kranke Menschen, auch Blinde. Doch solche Hilfen und Heilungen sind nur die kleinen Wunder für Jesus. Er will ein viel größeres, viel entscheidenderes, ja das entscheidende Wunder tun, an uns allen. Jesus will uns von unserer geistlichen Blindheit befreien. Wir sollen unser wahres Wesen sehen, unsere Selbstsucht, unsere Wut, unseren Jähzorn und uns dadurch von aller falschen Selbstzufriedenheit herausholen.

Dieses Wunder kann durch sein Wort geschehen wie jetzt in dieser Predigt. Dann kann uns aufgehen, wer wir sind. Und dann können wir auch sehen, wer Jesus ist, dass er uns nicht von sich wegstößt, sondern dass er uns liebt, wunderbar liebt und uns alle Sünde vergeben will.

Wir dürfen es glauben: Für unsere Sünde ist Abhilfe geschaffen. Vergebung ist bereit, durch Jesu Tat am Kreuz. Licht für unser Leben kommt vom Kreuz. Das sehen wir allerdings erst, wenn Gott uns von unserer geistlichen Blindheit heilt.

Vielleicht sitzen hier ja noch Leute, die dieses Wunder noch nicht erlebt haben, die aber nahe dran sind. Das wäre dann der Fall, wenn sie sich darüber aufregen, weil ich gesagt habe, dass sie mit ihrer falschen Sicherheit verloren gehen würden. Reg dich nicht auf. Wehre dich nicht gegen die Erkenntnis, dass du ein Sünder bist. Sondern sage „Ja“ zu dieser Wahrheit und glaube vielmehr: Jesus liebt dich, so wie du bist. Er nimmt Sünder an, auch dich.

Ich denke an einen Mann, der dieses Wunder der Selbsterkenntnis und der Erkenntnis Gottes erlebt hat. Später dichtete er als Erinnerung und aus Dankbarkeit für dies Erlebnis das Lied:

„O Wunder der Barmherzigkeit, du Licht in meiner Nacht!“ – Amazing grace lautet der englische Titel dieses bekannten Liedes. Sein Verfasser hatte eine liebevolle Mutter. Sie hat mit ihm gebetet, gesungen und die Bibel gelesen. Er war sieben, als sie gestorben ist. Mit zehn Jahren ging er mit seinem Vater zur See. Er wurde Seemann. Seinen kindlichen Glauben verlor er, begann zu trinken, prügelte sich, hatte Frauengeschichten – das ganze Programm. Dann wurde er Kapitän und verdiente richtig viel Geld mit Sklaventransporten. Sein verkommenes Leben endete jäh in einem Sturm. Er war überzeugt, mit seinem Schiff unterzugehen. Da fiel ihm seine Mutter wieder ein. Ihm gingen wieder die Augen auf: Was er damals hatte und was seither aus ihm geworden war, sah er mit klarem Blick. Er schrie zu Gott in den tobenden Himmel. Als der Sturm sich legte, war das Schiff nur noch ein Wrack, aber es trug ihn mitsamt seiner Ladung und der Mannschaft noch in den Hafen. Der Sturm war für ihn Gottes Gericht. Mitten in diesem Gericht ist ihm Gottes Gnade begegnet. Das hat ihm die Augen geöffnet. Gottes Gnade wurde zum Licht in seiner Nacht. Er kämpfte schließlich gegen die Sklaverei, wurde Pfarrer in England und ein begnadeter Dichter: John Newton (1727–1805).

Aus seiner Feder stammt das Lied Amazing grace: »I once was lost, but now I’m found, was blind, but now I see.« – »Ich war verloren, aber nun bin ich gefunden; ich war blind; nun sehe ich«. »Amazing grace!«Wunder der Barmherzigkeit! Gott hat es getan. Jesus Christus ist das Licht der Welt. Er macht dein Leben hell und klar. Es ist vollbracht. Damals. Und heute. Für mich. Und für dich.

Amen

Lied: 047 Kaa „Amazing Grace“ 1. Strophe