Predigt: Verschiebt Gott Barmherzigkeit?

Predigtreihe II – 16.08.2020
!0. Sonntag nach Trinitatis, Israelsonntag
Wochenspruch: Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!
Predigtwort: Römer 11, 25-34

Predigt

Liebe Gemeinde,

als Predigttext wurden für heute Worte aus dem Brief von Paulus an die Römer vorgegeben. Sie stehen fast am Ende des 11. Kapitels:

25 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist.
26 Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob.
27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«
28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.
29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.
30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,
31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.
32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Liebe Gemeinde,

geht es Ihnen auch so wie mir? Die Kombination Paulus und Luther ist nicht so ganz einfach. Ich meine, wenn der erste große Theologe auf die Sprache von Luther trifft, wird es etwas sperrig. So ging es mir zumindest beim ersten Mal als ich diesen Text las. Und auch beim zweiten Mal.

Ich werde daher versuchen, diesen Text mit meinen Worten nochmals nachzuerzählen.

Als erstes ist die Vorgeschichte wichtig. Paulus leidet. Paulus leidet darunter, dass seine Brüder und Schwester, das jüdische Volk scheinbar nichts kapiert haben. Allein im Römerbrief arbeitet sich Paulus über 3 Kapitel an diesem Thema ab, bis er nun hier zu dieser Erkenntnis kommt. Und nicht nur im Römerbrief. In seinen früheren Briefen war er noch richtig zornig, dann wechselte es in eine tiefe Traurigkeit. Jetzt, am Ende seines Durchdenkens, das schon manchmal Züge eines Selbstgespräches anzunehmen scheint, jetzt scheint er Frieden mit dem Thema gefunden zu haben. Ja, jetzt scheint das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen. Jetzt geht es gegen die Überheblichkeit der Heidenchristen.

Paulus ist also ein Geheimnis aufgegangen, das Geheimnis ´der Absichten Gottes mit Israel`. Und das muss er unbedingt der römischen Gemeinde mitteilen. Denn es bestand die Gefahr, dass sich eine Überheblichkeit der Christen gegenüber den Juden einschlich, dass sie sich selbst für klug hielten, wie es Luther übersetzte. Ja, es ist richtig, schreibt Paulus: ein Teil Israels ist verstockt, ihre Herzen sind verhärtet, aber gilt nicht für immer und ewig. Das gilt nur so lange, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist, bis also alle Völker diese frohe Botschaft von Jesus Christus gehört haben. Denn, und nun zitiert Paulus Jesaja und Jeremia: Aus Zion, also aus dem Volk Israels wird der Retter kommen. Er wird die Nachkommen Jakobs von ihrer Gottlosigkeit befreien. Und das ist der Bund, den ich, der Herr, mit ihnen schließe: Ich werde ihnen ihre Sünden vergeben.«

Es ist also nicht euer, nicht unser Problem, wenn es um die Errettung der Juden geht. „Ich, der Herr“ kümmere mich darum. „Ich werde ihnen ihre Sünden vergeben.“

Ja, es stimmt, fährt Paulus fort, ihre derzeitige Einstellung zum Evangelium macht sie zu Feinden Gottes. Aber ändert das etwas an der Erwählung Gottes? Ändern dies etwas daran, dass sie von ihm geliebt sind? Gott hat ihre Stammesväter erwählt, und wenn er in seiner Gnade Gaben gibt oder jemanden beruft, dann macht er das nicht rückgängig.

Und dann spricht Paulus die Römer, die Heidenchristen, also uns alle ganz direkt an. Denkt doch mal nach: In der Vergangenheit wart ihr es, die Gott nicht gehorcht haben, und durch den Ungehorsam Israels ist es dazu gekommen, dass ihr jetzt sein Erbarmen erfahren habt. Jetzt wollen die Juden nicht glauben, dass Gott durch Christus mit jedem Menschen barmherzig ist, obwohl sie es doch an euch sehen. Aber auch sie sollen schließlich Gottes Barmherzigkeit erfahren.

So hat Gott alle ohne Ausnahme zu Gefangenen ihres Ungehorsams, ihres Unglaubens werden lassen, weil er allen seine Barmherzigkeit schenken will.

Liebe Konfirmanden,

habt ihr das jetzt verstanden? Ich habe versucht, diese Stelle aus dem Römerbrief mit den verständlichsten Bibelübersetzungen und noch ein paar Ergänzungen nachzuerzählen. Jetzt ist es doch klar. Oder? Nein?

Wisst ihr, die Gemeinde brauche ich nicht fragen, ob sie es verstanden haben. Sie würden es nicht zugeben. Aber ihr könnt es gerne sagen, denn ihr wäret in guter Gesellschaft. Denn den Römern ging es auch nicht anders. Nicht umsonst hatte Petrus in seinem 2. Brief zwar von der großen Weisheit von Paulus gesprochen, musste aber auch zugeben, dass „einiges in seinen Briefen allerdings schwer zu verstehen ist".

Und auch wenn man jetzt die Worte und Sätze verstanden hat, so könnte man doch die Frage stellen: Was will er uns eigentlich sagen?

Gut, der Anfang ist einigermaßen klar. Liebe Römer, werdet nicht überheblich, schreibt da Paulus. Ja, es sieht so aus, als ob Gott seine Barmherzigkeit von den Juden abgezogen hätte und auf euch übertragen hat. Aber das stimmt nicht! Die Juden sind nach wie vor Gottes Volk. Und es ist natürlich für uns Christen beschämend und erschütternd, wie in den letzten 2000 Jahren diese Bibelstelle fortwährend überlesen wurde. Wie die Christenheit dachte und es auch praktizierte: Mit diesem verstoßenem Volk können wir machen, was wir wollen.

Aber dann wird es mit diesem Bibelabschnitt schwierig. Man kommt sich fast vor wie auf einem Verschiebebahnhof der Barmherzigkeit Gottes. Zuerst galt die Barmherzigkeit Gottes dem Volk Israel. Dann haben sie seine Barmherzigkeit, die er in Jesus Christus offenbart hatte, abgelehnt und Gott hat sie deswegen auf die Heiden umgeleitet. Und am Schluss gehört sie wieder allen.

Ist das Gottes Plan? Ist es also doch so, dass Gott einmal Barmherzigkeit verschenkt und dann doch wieder abzieht? Aber genau dagegen hat Paulus am Anfang so energisch argumentiert. Widerspricht er sich in dieser Bibelstelle nicht selbst?

Ich befürchte, genau eine solche Stelle hatte Petrus im Kopf, als er davon sprach, dass einiges von Paulus schwer zu verstehen ist.

Denn Gott will doch gegenüber allen Menschen barmherzig sein, jetzt und in alle Ewigkeit. Gott schließt doch niemanden aus! Gottes Liebe gilt doch allen Menschen, den Juden und den Heiden, die sich jetzt Christen nennen.

Was Paulus hier beschreibt ist etwas, so denke ich, das er an den Menschen um sich herum beobachtet hatte. An den Juden, also seinen geliebten Brüdern und Schwestern, und an den Nichtjuden, die jetzt Christen geworden sind. Er hat beobachtet, dass diese alle Menschen sind und somit menschlich handeln. Dass die einen eifersüchtig sind und neidisch, dass sie das Gefühl haben, sie werden übervorteilt und kommen zu kurz. Paulus hatte aber auch beobachtet, wie Menschen von einer Liebe überwältigt wurden, wie diese Liebe sie verändert hatte, wie sie praktisch wie neu geboren waren. Bei den einen war nichts mehr zu spüren von einer Liebe. Von einer Liebe untereinander, von einer Nächstenliebe und von einer Liebe zu Gott, zu ihrem Vater. Bei den anderen aber, den bekehrten Heiden, war plötzlich eine Liebe da, die er bis jetzt nicht für möglich gehalten hatte. Wie und warum können sich Menschen so verändern? Und da diese Liebe ja immer von Gott ausgeht, musste man wirklich den Eindruck gewinnen: Den einen wurde die Liebe Gottes, die Barmherzigkeit Gottes entzogen und den anderen geschenkt.

Aber ist das so? Verteilt Gott wirklich Liebe und Barmherzigkeit unterschiedlich stark? Lassen Sie mich das alles an dem doch sehr bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn verdeutlichen. Bitte schalten Sie nicht ab. Ich weiß, wir denken: Das Gleichnis haben wir schon so oft gehört, da kann nichts mehr Neues kommen.

Wie bekannt, lässt sich der jüngere Sohn von seinem Vater auszahlen, geht in die Fremde, verprasst, verhurt, versäuft sein Geld und ist schließlich am Ende. Er erinnert sich an seinen Vater, oder besser an die Knechte seines Vaters: Denen geht es zehn Mal besser als mir. Ich gehe zurück, egal wie groß die Demütigung ist. Vielleicht nimmt er mich als Knecht. Dass ich nicht mehr der Sohn sein kann ist eh klar. Er kommt also heim und wird von der Barmherzigkeit seines Vaters überwältigt. Soweit, so bekannt.

Um was es mir nun geht, ist die Barmherzigkeit des Vaters.

Denn es gibt ja noch den zweiten Sohn. Der Sohn, der ganz normal und nachvollziehbar denkt und handelt. Der genauso ist, wie ich wahrscheinlich auch wäre. Der stinksauer ist, weil sich jetzt plötzlich alles wieder um dieses verzogene Nesthäkchen dreht. In einer gestörten Familienkonstellation kann das ja durchaus so sein, aber nicht in unserem Gleichnis. Denn hier ist der Vater Gott, der barmherzige Gott

Hat Gott, der Vater, seine Söhne unterschiedlich stark und intensiv geliebt? Dass er den Jüngeren liebt, ist offensichtlich. Aber was ist mit dem Älteren? War der Vater vielleicht von ihm enttäuscht, nach dem Motto: das habe ich mir gleich gedacht. Er hat den Weggang seines jüngeren Bruders nie bedauert. Jetzt tritt sein wahrer Charakter zutage. Im Gegenteil! In dem Gleichnis heißt es: Der Ältere wurde zornig und wollte nicht ins Haus hineingehen. Und was macht der Vater? Er geht nach außen und kommt auch dem älteren Sohn entgegen! Dann folgt dieses denkwürdige Gespräch, in dem sich der Älteste so vernachlässigt fühlt. Ich habe alles für dich gemacht und was machst du für mich? Ja, was hat der Vater für seinen ältesten Sohn getan? Alles! Ja alles, denn der Vater antwortet: Alles was mein ist, ist auch dein!

Gott verschiebt die Barmherzigkeit nicht! Gott verschenkt Barmherzigkeit gleichermaßen. Gott liebt nicht den einen mehr als den anderen. Das Problem ist nur, dass es uns trotzdem so vorkommt. Egal ob das vor zweittausend Jahren war oder heute. Egal ob wir Juden oder Christen sind. Wir sind Menschen, wir sind menschlich. Wir sind eifersüchtig und neidisch und wir haben immer wieder das Gefühl zu kurz zu kommen: Gott liebt uns nicht, oder zumindest weniger als den anderen.

Am Ende unseres Predigtabschnittes steht ja noch so ein merkwürdiger Satz.

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Hat Gott also uns alle zu Sündern gemacht damit er uns allen seine Barmherzigkeit schenken kann?

Es ist nicht die Frage, ob Gott uns zu Sündern macht. Das schaffen wir schon selber. Es ist die Frage, in welchen Zustand können wir überhaupt die Barmherzigkeit Gottes erkennen? Die Antwort darauf ist leider sehr ernüchternd. Sowohl die Juden zu Zeiten Paulus, als auch der ältere Bruder waren der festen Überzeugung, wir gehören zu dem auserwählten Volk, ja, ich bin anständig und tue nur das, was mein Vater will. Und genau in diesem Zustand wurden beide blind. Beide haben ihren Gott, ihren Vater verloren. Beide haben gedacht, dass sie durch Gesetze und gute Taten gerecht vor Gott werden und dadurch nicht mehr auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Beide haben sich getäuscht.

Und wir? Was für einen Stellenwert haben unsere guten Taten oder auch unsere Zugehörigkeit zu einer großen und in dieser Form sicherlich seltenen christlichen Bewegung? Sie verstehen mich sicher richtig. Ohne gelebte Nächstenliebe ist das Christentum sinnlos und ohne die Gemeinschaft mit anderen Christen werden wir vertrocknen. Aber was hat es für einen Stellenwert? Können wir wirklich noch erkennen, dass wir nur von der Barmherzigkeit, von der Gnade Gottes abhängig sind? Den damaligen Heidenchristen und dem jüngeren Sohn fiel es leicht, diese Barmherzigkeit das erste Mal oder wieder neu zu begreifen, denn sie waren tot und durften und konnten neu leben. Aber wir, bei denen alles so geordnet und eingefahren ist?

Wir dürfen da ganz nüchtern sein. Uns fällt es schwerer, diese Barmherzigkeit und Gnade immer wieder neu zu erkennen. Aber die Barmherzigkeit gilt eben genauso auch uns alten Brüdern und Schwestern. Der Vater hat auch wegen uns sein Haus verlassen und kam und kommt uns jeden Tag aufs Neue entgegen. Alles was mein ist, ist auch dein, sagt der Vater zu uns. Selbst mein eigener Sohn ist jetzt auch dein Sohn. Grüble jetzt nicht darüber nach, dass da keine brennende, erste Liebe mehr da ist. Komm einfach mit hinein in mein Haus.

Ich liebe dich und ich will euch alle, wirklich alle, erretten.

Amen