Bayreuth, den 6.9.20 1. Johannes 4,7-12

Liebe Gemeinde! 

Die Worte, die wir eben gehört haben, beschreiben das Zentrum unseres Glaubens. Das ist die Liebe. Liebe ist der Treibstoff unseres Lebens. Ohne Liebe funktionieren wir nicht, bewegt sich nichts und bewegen wir nichts. Ohne Liebe ist unser Leben sinnlos. Da kommt nichts dabei heraus. Und wenn ein Leben noch so imposant ausschaut, so wie jene seltsame Maschine, von der ich erzählen möchte:

Ein Bildhauer hatte sie auf einer Ausstellung vor einigen Jahren ausgestellt. Eine Maschine mit gigantischen Ausmaßen. Sie funktionierte. Ständig war die aufsehenerregende Konstruktion von Besuchern umringt, die das Gewirr von Metallstangen, Schwungrädern, Blechteilen, Ketten und Zahnrädern mit merkwürdigen Blicken bestaunten. Als die Maschine zu arbeiten begann, verursachte sie einen unheimlichen Lärm. Es rasselte und klopfte und kratzte und polterte derart, dass die Zuschauer eiligst die Flucht ergriffen. Und dann wurde gefragt: "Was produziert diese Maschine eigentlich?" Die Zuschauer wurden mit dem Wort informiert: "Nichts!"

Der Künstler hatte ein Symbol ausgestellt. Er wollte mit diesem Sinnbild unserer Zeit, in der wir leben, zum Nachdenken aufrütteln. In unserer Zivilisation drehen sich so viele "Räder", dass es einem unheimlich werden kann. Genau wie jene produktionslose Maschine leben wir in einer Welt, in der alles rasend schnell vorwärtsstrebt. Aber man muss sich doch auch fragen: Was kommt denn dabei heraus?

Was ist die letzte Bilanz unseres kostbaren Lebens? Ist es vielleicht nur eine Maschine, die letzten Endes nichts produziert? Sicher, man hat vielleicht etwas vorzuweisen, Erfolg im Beruf etwa, oder Familie, Wohlstand, ein Häuschen und ein Auto vielleicht. Aber ist das alles, ist das wirklich das ganze Leben?

Nein, das Entscheidende ist, ob in unserem Leben Liebe war. Liebe, ein großes Wort, das oft gebraucht wird. Aber was ist Liebe überhaupt? Johannes sagt hier in unserem Predigtabschnitt: Gott ist die Liebe. Was meint er damit?

Wir müssen schon genau hinsehen. Hier steht zum Beispiel nicht: Die Liebe ist Gott. Das gibt es ja auch: dass wir menschliche Liebe vergötzen. Da werden Ehen gebrochen, und Ehen geschieden – im Namen der Liebe. Man liebt einen neuen Partner. Das kann doch nur richtig sein, wenn man auf sein Herz hört, oder? Nein, es ist Untreue. Oder wir vergöttern die Sexualität, nennen sie Liebe und fragen unschuldig mit Marlene Dietrich: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Ja, wenn man darunter Sex ohne das Versprechen der lebenslangen Treue versteht, ohne Ehe.

Das zweite Missverständnis von der Aussage „Gott ist die Liebe“ lautet: Gott ist der „liebe Gott“. So steht das nicht da. Und es ist auch nicht wahr. Gott ist nicht der „liebe Gott“, der dafür sorgen muss, dass es uns immer gut geht, dass wir nicht krank werden, dass uns kein Unglück passiert, dass wir ein bequemes, gemütliches Leben bis ins hohe Alter führen. Und wehe, wenn er es nicht tut! Dann kommen die Vorwürfe gegen Gott, bis hin zur Verbitterung und dass man den Glauben an ihn aufgibt. Man meint: Einen Gott, der so viel Schlimmes in meinem Leben und auch im Leben anderer zulässt, kann es doch nicht geben.

„Gott ist die Liebe“. Dieser Satz von Johannes ist ganz anders gemeint. Gottes Liebe, so schreibt er, zeigt sich darin, dass er seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben sollen. Liebe bedeutet also Hingabe und damit auch wie bei Jesus Leid, Schmerz, Tod, Opfer. Liebe sorgt nicht für Wellness. Liebe ist kein billiges Gefühl. Liebe ist keine unverbindliche Sympathie. Liebe sieht den armen Menschen und kann nicht anders, als sich für ihn zu opfern. Liebe verlässt die Komfortzone. Liebe zahlt den höchsten Preis, wenn es darauf ankommt. Liebe gibt sich lieber selbst in den Tod, als den Geliebten preiszugeben. Das ist Gottes Liebe.

Das Kreuz ist das deutlichste Zeichen, ja der eindeutige Beweis der Liebe Gottes zu uns Menschen. Dort ist Jesus für uns, das heißt an unserer Stelle gestorben. Eigentlich hätten wir nichts Anderes verdient, als dort zu hängen.

Dort am Kreuz hat Jesus sich zu Tode geliebt, für uns, für dich und mich, damit uns unsere Sünde vergeben werden kann. Diese vergebende Liebe soll nun nicht nur ein Wort bleiben, eine hohle Phrase, die uns nicht weiter bewegt. Sondern sie will auch in unserem Leben ganz konkret werden.

Unsere Sünde ist ja auch ganz konkret. Sie zeigt sich ebenfalls wie die Liebe in den kleinen Dingen des Alltags. Da fährt vielleicht der Ehemann die Frau an, oder der Sohn die Mutter, nur, weil er mit schlechter Laune nachhause kommt. Da ist man doch nicht nur „schlecht drauf“ sondern da sind böse Worte gefallen. Und diese Worte zerstören. Da bleiben Verletzungen zurück, und wenn es nur kleine Risse sind.

Da gibt es die kleinen Vergehen, über die man so leicht hinweggeht. Einen Kaugummi im Laden klauen, es bei der Steuererklärung nicht so genau nehmen. Auch wenn es nur um Kleinigkeiten geht: Es steht doch in der Bibel das Gebot „Du sollst nicht stehlen“.

Oder da ist der alltägliche Klatsch und Tratsch unter Freunden: Es fallen verächtliche Worte, ein überlegenes Lächeln, eine abfällige Handbewegung über Dritte. Kleinigkeiten, aber doch ein Verstoß gegen die Liebe. So konkret ist also unsere Sünde.

Genau so konkret will auch die vergebende Liebe Gottes in unser Leben kommen. Jesus macht es so leicht. Wir dürfen zu ihm kommen, im Bekenntnis unserer Schuld, und er spricht uns frei. Aber kommen müssen wir.

Ich denke an „Peer Gynt“, dieses Drama von Ibsen, der nordische „Faust“, das ich einmal auf der Luisenburg gesehen habe. Peer Gynt ist ein wilder Bursche, der mit seinen Raufereien und Abenteuern alle gegen sich aufbringt. Nur das Mädchen Solvejg liebt ihn. Aber er verrät ihre Liebe und verlässt sie und seine Heimat. Auf abenteuerliche Weise schlägt er sich in der Welt herum.

Als alter Mann kehrt er in seine Heimat zurück. Und endlich ganz zum Schluss seines Lebens findet Peer Gynt die Kraft, „mittendurch“ und nicht mehr „drumherum“ zu gehen. Er tritt Solvejg gegenüber, die ihr ganzes Leben auf ihn gewartet hat und bekennt ihr alle seine Verfehlungen. Lug und Trug, Mord und Totschlag, List und Gemeinheit, Brutalität und Egoismus. Das schreckliche Übermaß seiner Schuld kann Solvejg nicht schrecken. Sie ist glücklich, dass Peer Gynt endlich zurückgekehrt ist. Und er fragt sie ungläubig: „Weißt du, wo ich all die Jahre wirklich war?“ Sie aber antwortet: „Du warst immer in meiner Liebe!“

Wer immer den Mut hat, nicht mehr drumherum sondern mittendurch zu Gott zu gehen mit all seiner Schuld und Last, dem wird Gott auch sagen: „Du warst immer in meiner Liebe.“ Wenn wir aus Schuld und Dreck wie der verlorene Sohn zu seinem Vater zu Gott kommen, dann wartet immer Liebe auf uns, kein Vorwurf, kein Zurückstoßen. Wer immer dieses „Vater, ich habe gesündigt“ über die Lippen bringt, zu dem spricht er: „Mein liebes Kind!“

So ist Gottes Liebe. Gott kann nicht anders als so zu lieben. Denn er hat nicht nur Liebe zu uns. Sein ganzes Wesen ist Liebe. Und diese Liebe gilt uns. Wir sind von Gott geliebt, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es fühlen oder nicht, ob wir es glauben oder daran zweifeln, oder wir gut drauf sind oder völlig neben der Spur. Wir sind, wie Solvejg es Peer Gynt sagte, immer in seiner Liebe. Gott kann nicht anders, als immer wieder an uns zu denken, wie er uns helfen, zurechtbringen und vor allen Dingen zur Erkenntnis seiner Liebe bringen kann. Nichts macht ihn glücklicher, als wenn ihm das gelingt. Weil er uns liebt. Bedingungslos.

Menschliche Liebe tickt ja anders. Wir Menschen lieben, was uns von Natur nahesteht, wie unsere Kinder. Wir lieben, was uns sympathisch ist, irgendwie attraktiv, eben liebens-wert.

Bei Gottes Liebe ist das anders. Gottes Liebe findet das Liebenswürdige nicht vor, sondern schafft es erst. So hat es Martin Luther formuliert. An anderer Stelle schreibt er sogar: „Die Sünder sind darum schön, weil sie geliebt werden; nicht darum werden sie geliebt, weil sie schön sind.“ Liebe macht schön. Das siehst du bei einer Hochzeit bei jeder Braut, die weiß, das der Bräutigam sie liebt. Oder hat jemand von uns schon einmal eine Braut gesehen, die nicht schön war? Ich nicht.

So eine Liebe lässt nicht kalt. Sondern sie bewegt und verändert. Und dem Nächsten gegenüber kann es sich zeigen, dass etwas anders geworden ist.

Wir können die Liebe, die wir von Gott empfangen haben, weitergeben. Ein wunderschönes Beispiel ist der Klosterbrunnen im Zisterzienserkloster Maulbronn. Es ist ein dreischaliger Brunnen. Das Wasser steigt aus der Tiefe hoch und fällt in die oberste Schale. Ist diese überfließend gefüllt, fällt das Wasser in die nächste, größere Schale. Schließlich fließt der Quell in die dritte, noch größere Brunnenschale ganz unten.

So ist es mit der Liebe Gottes. Sie ist immer in Bewegung von oben unten, von Gott zu den Menschen. Zuerst erreicht sie uns, dann kann sie von uns zum Nächsten fließen, der sie wiederum weitergeben kann.

Ich denke, das wissen viele unter uns. Und trotzdem leiden wir darunter, dass wir diese Liebe oftmals nicht so weitergeben, wie Gott es will und wie es auch möglich wäre. Das sollte doch alles anders sein!

Wir sollen den anderen lieben. Mit den Netten geht das so einigermaßen. Aber da gibt es ja auch die nervigen Typen, die Unsympathischen, die Ekelpakete. Aber ich soll sie doch lieben! Also quetsche ich so viel Liebe aus mir heraus, wie nur geht. Aber dann erwische ich mich dabei, dass ich doch schlecht von anderen rede oder denke, dass ich sie am liebsten von hinten sehe und meine Ruhe vor ihnen hätte. Von Liebe keine Spur! Die Not der andren kümmert mich doch nicht. Am Ende bin ich doch wieder mit mir beschäftigt.

So geht das nicht. So ein Christentum ist eine Quälerei. Es ist wichtig und entscheidend für unser Leben als Christ: Gott ist die Liebe. Ich bin es nicht. Gott ist Barmherzigkeit, Einsatzbereitschaft, Empathie, Hilfsbereitschaft. Ich bin es nicht.

Der bekannte christliche Schriftsteller C. S. Lewis hat viele geistreiche Bücher geschrieben. Unter anderem die „Dienstanweisungen für einen Unterteufel“. Dort erklärt ein Teufel dem anderen Folgendes: „Wenn die Aufmerksamkeit der Menschen dem Feind selbst gilt (er meint damit Gott), dann sind die Teufel besiegt. Deshalb müssen sie dies verhindern. Er erläutert auch, wie das geht: „Der einfachste Weg ist der, ihr Augenmerke von Ihm weg auf ihr eigenes Ich zu richten. Halte sie dazu an, nur auf ihren Seelenzustand zu achten und in sich durch eigene Anstrengungen gewisse Gefühle zu erregen. Wenn sie vorhaben, Ihn um Nächstenliebe zu bitten, dann lasse sie stattdessen versuchen, nachsichtige Gefühle gegen sich selbst zu schaffen, ohne zu merken, was sie eigentlich tun. … Wenn sie sagen, sie bitten um Vergebung, dann lasse sie sich anstrengen, das Gefühl der Vergebung zu erlangen. Lehre sie den Wert jedes Gebetes nach der Befriedigung einschätzen, die das von ihnen erregte Gefühl ihnen bringt.“

Und wie kommen wir nun weg davon, dass sich unser Leben weiter nur um selbst dreht? Ganz einfach: Indem ich mich von mir selbst abwende und dem Nächsten und Gott zuwende. Indem ich umkehre, Buße tue. Das heißt: Ich gebe mich vor Menschen schuldig, denen ich mich lieblos gegenüber verhalten habe. Und wende mich Gott zu, bitte ihn um Vergebung und traue ihm zu, dass seine Liebe mir gilt und dass sie groß genug ist, dass ich von ihr abgeben kann. Danke ihm für seine Liebe. Beschäftige dich immer wieder dafür. Lass dich durch nichts, auch nicht durch eigenes Versagen, von dem Glauben abbringen: Du bist von ihm geliebt und bleibst geliebt.

Sieh nicht auf dich und deine Gefühle. Sieh auf Jesus, das heißt: danke ihm für seine Liebe. Dann siehst du auch den anderen, mit den Augen SEINER Liebe. Dann siehst du, was ein anderer braucht, siehst du seine Not und packst zu. Dann verlässt du wie Jesus es getan hat, die Komfortzone, sprichst auch aus Liebe das an, was gesagt werden muss, auch wenn es weh tut, und schweigst nicht aus Feigheit. Dann lernen wir sehen und verlernen das Übersehen.

John Ortberg erzählt in einem seiner Bücher von einer 70jährigen Frau, korpulent, mit Haarausfall und Arthritis. Sie fand im Alter nochmals eine große Liebe. Wie begann es? Sie hatte einen Bekannten im Altersheim, auch über 70. Die beiden telefonierten miteinander und trafen sich hin und wieder. Bei einem Telefonat erzählte sie von einer Einladung bei Freunden. Er hörte höchst interessiert zu. Dann fragte er: „Und was hattest du an?“ Da fing sie an zu weinen und fragte: „Weißt du, wie viele Jahre es her ist, dass mich jemand gefragt hat, was ich anhatte?“

Das sind die kleinen Aufmerksamkeiten der Liebe. Sie hört zu, fragt nach, schaut hin, erkennt den müden, traurigen Blick. Sie weiß den Geburtstag, denkt an die Examensprüfungen, fragt nach. Ich habe so einen Menschen gekannt, der so nachfragte: „Und wie war es nun mit diesem und jenem?“ Liebe ist verlässlich, geht dem nach, der auf Abwege gekommen ist, nimmt sich auch ein Herz und spricht ihn daraufhin an.

Sind wir so? Sicher nicht immer. Aber wir können uns danach sehnen, dass Menschen in unserer Nähe Zuversicht und Liebe finden. Und wir können unsere Sehnsucht Gott sagen. Wenn wir das tun, dann bekommen wir diese Liebe. Jesus hat es in der Bergpredigt versprochen: Wer danach hungert und dürstet, vor Gott recht zu sein, der wird satt werden. Er füllt unseren Mangel aus – mit seiner Liebe.

Amen