Bayreuth, den 11.10.2020 - 1. Mose 8,18-22; 9,12-17

Liebe Gemeinde! 

Es steht nicht da, was Noah gedacht hatte, als er die Arche verlassen konnte. Wir wissen es nicht. Ich kann nur sagen, was ich wahrscheinlich denken würde, wenn ich wie Noah nach einem Jahr aus so einem Schiff wie die Arche herauskommen könnte: „Endlich wieder festen Erdboden unter den Füßen! Endlich raus aus diesem Kasten, raus aus dieser Enge, raus an die frische Luft, an die Sonne!“

Ich stelle mir vor: Das muss ein unbeschreibliches Gefühl sein. So wie das halt ist, wenn wir eine lange Zeit lang bestimmte Dinge, die uns selbstverständlich vorkommen, nicht mehr tun konnten. Und dann geht es doch wieder! Ich konnte mal durch einen Unfall bedingt ein Jahr lang nicht mehr joggen. Ich weiß noch, wie das war, wie ich wieder anfangen konnte, ganz vorsichtig und langsam. Auf der einen Seite war die Angst da, ob die Knochen und Sehnen die Belastung aushalten können. Aber auf der anderen Seite eine große Dankbarkeit, dass ich wieder ohne Schmerzen einen schnelleren Schritt machen konnte. Bewegend war für mich, was ein lieber Freund in einer WhatsApp-Nachricht schrieb: Nach schwerer Krankheit konnte er mal ein paar Stunden aus einer Reha nachhause und in seinem eigenen Bett liegen. Was für eine Wohltat war das für ihn!

Und stellen wir uns mal vor: Wie wird das sein, wenn einmal die Corona-Zeit vorbei sein wird, wenn wir keine Masken mehr tragen müssen, wenn wir keine Abstandsregelungen mehr einhalten müssen, wenn wir Gottesdienste wieder ohne Einschränkungen halten können, wenn diese weltweite Pandemie mit zurzeit etwa einer Million Todesopfern einmal zum Stillstand gekommen ist. Dann wird doch bei uns allen auch eine große Dankbarkeit da sein.

Ich bin guter Zuversicht, dass es so kommen wird, hoffentlich bald. Auch die Sintflut endete einmal. Nach etwa einem Jahr war diese weltweite Katastrophe vorbei. Dann hatten sich die Wasser wieder verlaufen und Noah konnte mit seiner Familie die Arche verlassen.

Die allermeisten unter uns kennen sicher die Geschichte von der Arche Noah von der Schule oder vom Kindergottesdienst. Ein beliebtes Motiv für eine Kinderbibel ist ein freundlicher Noah, der mit unzähligen fröhlich dreinblickenden Tieren in der Arche steht. Aber auf diesen Bildern wird ja nur die eine, die kinderfreundliche Seite der Sintflutgeschichte dargestellt. Die andere Seite ist schrecklich. Die Sintflutgeschichte ist ja nicht nur eine Rettungsgeschichte über Noah, über seine Familie und die Tiere. Sie ist auch ein Gerichtshandeln Gottes. Die Menschheit, so schildert es die Bibel, war so verdorben, dass Gott beschloss, seine Geschöpfe sterben zu lassen, bis auf Noah und seine Familie.

Ich weiß: So manche Menschen, auch Theologen, verweisen diese Geschichte in das Reich der Phantasie. Aber wir wollen eines bedenken: Die Bibel ist kein Märchenbuch, sondern voller Geschichten, die Menschen mit Gott erlebt haben, Geschichten, die wir heute noch mit ihm erleben können. Sie ist auch voller Worte, in denen bis auf den heutigen Tag Gott Menschen persönlich anspricht. Übrigens gibt es bei vielen alten Kulturvölkern Erzählungen über eine Flut in der Urzeit. Und auch ärchäologische Ausgrabungen bestätigen den Bericht der Bibel. Natürlich: Allerhand Fragen bleiben für uns offen: Wie schaffte es Noah nur, alle damals existierenden Tierarten in die Arche zu bringen? Wieso haben die Tiere sich nach kurzer Zeit nicht alle aufgefressen? Der biblische Erzähler gibt auf diese Fragen keine Antwort. Es ist ihm etwas ganz Anderes wichtig. Er will uns von Noah erzählen, der von Gott einen Auftrag erhielt, der ihm gehorsam war und mit seiner Familie gerettet wurde.

Dann zeigt uns diese Geschichte eine Seite von Gott, die uns modernen Menschen fremd geworden ist. Er ist zwar von seinem Wesen her barmherzig, gnädig, geduldig und bereit zum Vergeben. Er mahnt auch und warnt. Gott straft nicht sofort, sondern wartet oft. Er handelt wie ein guter Fußballschiedsrichter. Zunächst ermahnt dieser einen Spieler, wenn er Foul spielt. Dann zeigt er ihm die gelbe Karte und schließlich, wenn es nicht mehr anders geht, die rote Karte und wird des Feldes verwiesen.

Es muss schon viel passieren, bis Gott einem Menschen die rote Karte zeigt, bis er ihn sterben lässt und er nach dem Tode Rechenschaft über sein Leben fordert und ihn fragt: „Was hast du aus dem Leben gemacht, das ich dir gegeben habe?“ Und ihn schuldig spricht. Jetzt haben wir noch die Chance, uns selber schuldig zu sprechen, wo wir falsch gehandelt haben, wo wir gierige, hässliche, neidische, überhebliche Gedanken gepflegt haben, wo wir unseren Mitmenschen rücksichtslos und lieblos behandelt haben, wo wir unser Ich in den Mittelpunkt gestellt haben und Gott gar keine Rolle oder nur eine Nebenrolle zugewiesen haben, ihm nicht oder kaum gedankt haben, nicht zu ihm gebetet haben oder nur dann, wenn wir mal wieder Hilfe brauchten. Wenn wir selber gnädig über unser Fehlverhalten hinweggehen, dann spricht Gott uns schuldig. Wenn wir aber uns selber schuldig sprechen, dann ist Gott uns gnädig. Dann vergibt er – gerne.

Gott kann also und muss sogar einmal, wenn er seine eigenen Gebote ernst nimmt, strafen, so wie ein Richter strafen muss, wenn er die Gesetze seines Landes ernst nimmt. Aber ist nun Corona eine Strafe Gottes?

Bestraft Gott gar die Erkrankten durch Corona? Ich kann so einen Satz nicht sagen. Dann hätte Gott sich ja gerade die Schwächsten unserer Gesellschaft herausgesucht, die Älteren und gesundheitlich Vorbelasteten, oder die Ärzte und das Pflegepersonal, die sich für das Leben ihrer Patienten eingesetzt und angesteckt haben, um sie zu bestrafen. Die Coronakrise geht uns alle an. Sie ist für mich ein Weckruf Gottes, nicht nur an unsere Gesellschaft, sondern an uns alle, ja an mich, auch und gerade an die Gesunden.

Jesus wurde einmal gefragt, ob die Menschen, die durch ein Unglück zu seiner Zeit ums Leben kamen, schuldiger wären als die anderen. Jesus antwortet auf diese Frage: Nein, die Leute, die bei solchen Katastrophen umkommen, sind nicht schuldiger als andere.

Das muss man zum Schutz und zum Trost derer sagen, die von irgendeinem besonderen Leid oder Unglück betroffen sind. Wir leben nun einmal in einer Welt, in der es plötzliche Todesfälle, Krankheiten, Unfälle oder eben Pandemien gibt. Das gehört zum Menschsein nach dem Sündenfall dazu. Und jeder wird davon mehr oder weniger betroffen. Es ist nicht nur unbarmherzig, sondern ganz einfach falsch, wenn man mutmaßt: Das war eine gerechte Strafe, die jemand getroffen hat.

Sicher kann kein Mensch sagen: Ich bin unschuldig! Womit habe ich das Böse in meinem Leben verdient? Aber ich kann keinen direkten Zusammenhang herstellen zwischen meiner Schuld und einem schlechten Ergehen. Jesus lehnt solches Denken radikal ab. Vielmehr fordert er in Lukas 13,5 die Nichtbetroffenen des Unglücks, das Zusammenstürzen eines Turmes, zur Buße, das heißt zur Umkehr zu Gott, auf. Dann fährt er fort: Wenn ihr das nicht tut, werdet ihr alle auch so umkommen.

Diese Aussage klingt hart und erschreckend. Aber sie ist wichtig, gerade für uns fromme Leute. Wir neigen dazu, mit dem Finger auf andere zu zeigen, die unserer Meinung nach das Gericht Gottes verdient haben. Und bedenken nicht, dass dann drei Finger auf uns zeigen. Wir, nicht die anderen, sollten uns schuldig geben. Das möchte ich auch tun, für mich selbst und nicht für andere. Ein jeder soll vor seiner eigenen Tür kehren, heißt es im Sprichwort. Das gilt besonders in Zeiten von Corona. Nun werde ich hier kein öffentliches Schuldbekenntnis ablegen, aber doch einen mir persönlich wichtig gewordenen Punkt nennen, weil ich meine, dass er Sie wohl auch betrifft. Ich spreche vom Selbstverständlichnehmen der Guttaten Gottes wie der Gesundheit, der Freiheit zu reisen oder seine Religion auszuüben, der Versammlungsfreiheit oder der Möglichkeit sich mit lieben Menschen ungehindert zu treffen. Wahrscheinlich geht es Ihnen genauso: Ich schätze das, was Gott mir geschenkt hat, erst so recht, wenn ich es nicht mehr habe. Erst dann merke ich, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist. Für diese Undankbarkeit Gott gegenüber möchte ich mich schuldig geben und habe es auch getan.

Gott freut sich über dankbare Menschen. Das lernen wir auch aus der Geschichte von Noah. Er verlässt nach einem Jahr die Arche. Was war das Erste, was er tat? Er baute einen Altar. Dies ist übrigens das erste Mal, dass in der Bibel ein Altar erwähnt wird. Darauf bringt Noah Gott ein Dankopfer dar. Das erste, was Noah nach der Sintflut tat, war also nicht, eine Notunterkunft zu bauen. Es war auch nicht, nach Trinkwasser Ausschau zu halten und nach Nahrung zu suchen. Das Erste war der Dank.

Einem Kind kam diese Tatsache sehr merkwürdig vor. Es hörte das erste Mal die Geschichte von der Sintflut. Nach der Erzählung gab es folgenden Kommentar ab: „Das kann doch nicht stimmen, dass Noah gleich nach dem Verlassen der Arche ein Dankgebet gesprochen hat. Da hätte er sich in den Matsch knien müssen und das ist doch fies.“

Dieses kleine Mädchen hat bei aller Skepsis etwas wirklich Bemerkenswertes in dieser Geschichte entdeckt. Noah gibt zuallererst Gott die Ehre und dankt ihm. So beginnt, kann man sagen, das neue Leben auf der wiedergeschenkten Erde mit einem Gottesdienst. Man wird an die Regel der Benediktinermönche erinnert: Dem Gottesdienst ist nichts vorzuziehen. Das gefällt Gott, wenn wir ihn ehren und ihm danken.

Es kommt nach dem Dank von Noah sogar zu einem radikalen Umdenken Gottes, zu einem Paradigmenwechsel. Gott entschließt sich, nie mehr so eine furchtbare, weltumfassende Flutkatastrophe zu schicken. Ganz merkwürdig. Eigentlich müsste ja Gott die Menschen immer wieder mit Sintfluten strafen. Der Mensch hat sich ja in den letzten Jahrtausenden nicht geändert. So wird es hier auch nüchtern festgestellt: Das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Aber Gott hat sich geändert. Oder vielleicht genauer ausgedrückt: Er hat eine neue Strategie, wie er mit dem Bösen der Menschen umgeht. Er verzichtet von nun an auf umfassende Gerichte. Die Erde bleibt bestehen. Die natürlichen Abläufe wie Sommer und Winter, Säen und Ernten werden sich nicht verändern. Wie lange? Auf ewig, steht hier da. Diese Erde wird nicht untergehen. Sie wird nicht kaputtgehen. Selbst der Mensch schafft das nicht. Sie wird allerdings einmal neu werden. Gott wird sie einmal gewissermaßen runderneuern. Dies geschieht, wenn Jesus wiederkommt.

Das Zeichen dieser bewahrenden Gnade ist der Regenbogen. Das Wort „Bogen“, das hier verwendet wird, steht in der hebräischen Sprache für eine Waffe. Gemeint ist der Kriegsbogen. Aber Gott hält ihn nicht schussbereit in der Hand. Sondern er hat ihn beiseitegestellt. So ist der Bogen das Zeichen des Friedens. Den Regenbogen gab es sicher seit Beginn der Schöpfung. Aber nach der Sintflut ist er das Zeichen, dass Gott es gut mit der Menschheit meint. Er ist ein Zeichen der Treue Gottes. Er hat Gedanken der Gnade und des Neuanfangs.

Auch und gerade in Zeiten von Corona hat mir dieses Zeichen mehrfach Mut für die Zukunft gemacht. Ich denke an ein Erlebnis, das für mich besonders eindrücklich war. Es war am letzten Tag vor dem Lockdown Mitte März und auch dem Besuchsverbot in Altenheimen. Eine Angehörige bat mich, eine ältere Frau in einem Seniorenheim zu besuchen und mit ihr das Abendmahl zu feiern. Eigentlich wollte ich den Termin verschieben. Aber ich hatte vergessen, abzusagen. So machte ich diesen Besuch, der mit mehreren Überraschungen verbunden war. Erste Überraschung: Eigentlich hatte die Heimleitung schon beschlossen, dass keine Besucher mehr ins Seniorenheim reindürfen. Aber bei mir machte man noch eine Ausnahme. Zweite Überraschung: Die ältere Person, die sehr dement war, war erstaunlicherweise und für mich unfassbar bei der Abendmahlsfeier konzentriert bei der Sache. Dritte Überraschung: Nach der Abendmahlsfeier, die sehr bewegend war, sah man vom Fenster aus einen wunderbaren Regenbogen, also ein Zeichen der Gnade Gottes. Zu Beginn des Lockdowns kam ich also noch wunderbarerweise in dieses Seniorenheim. Einen Tag später wäre das bis heute nicht mehr möglich gewesen. Zu Beginn des Lockdowns fand ein Mensch im Abendmahl Frieden mit Gott. Und zu Beginn des Lockdowns stand über Bayreuth das Zeichen der Gnade Gottes. Das heißt ja: Gott will Zukunft schenken. Gott will noch einmal neu anfangen. Damit rechne ich.

Und wir? Wie wird nach Corona unsere Antwort auf Gottes Gnade sein? Die Welt wird wohl nicht mehr so sein wie vor der Krise. Vielleicht wird dieses Virus uns von an begleiten. Und man kann sich nur immer wieder dagegen impfen. Wir wissen es nicht. Es wird sich manches verändert haben, wie auch immer. Das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass wir uns auch verändert haben, dass wir vor allen Dingen dankbarer geworden sind für alle Wohltaten Gottes und nicht so selbstverständlich nehmen: dass wir gesund geblieben sind oder gesundgeworden sind, dass wir im Frieden leben können oder dass wir trotz steigender Arbeitslosenzahlen, trotz einer Wirtschaftskrise dankbar sein können, in einem reichen Land zu leben und dass wir uns dann – hoffentlich bald! – wieder ohne Einschränkungen in unserem Gotteshaus treffen können. Ein Haus, das übrigens auch seine Geschichte mit dem Regenbogen hat.

Daran möchte ich heute am Kirchweihfest zum Schluss noch erinnern: Vor 47 Jahren wurde diese Kirche eingeweiht. Vor 16 Jahren fand die Einweihung des Anbaus statt. Am Tag vorher fand schon die erste Veranstaltung mit Pfarrer Theo Lehmann statt. Die Kirche war voll. Draußen kam während der Veranstaltung ein Gewitter auf. Danach sahen wir einen wunderschönen doppelten Regenbogen. Ausgerechnet bei der ersten Veranstaltung in der erweiterten Kirche! Mir standen damals die Tränen in den Augen. Ist das nicht auch ein Zeichen dafür, dass Gott diesem Haus und allen, die in dieser Kirche zu den Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen ein und aus gehen, gnädig sein will?

Das wünsche ich mir auch für die Zukunft: Dass diese Kirche ein Ort bleibt, in dem die Hoffnung auf die wunderbare Gnade Gottes verkündigt wird.

Amen