Bayreuth, den 01.01.2021 Lukas 6,36

Liebe Gemeinde!

Das Jahr ist noch jung, erst ein paar Stunden alt. Es ist sicher gut, wenn wir es mit dem Wort Gottes beginnen. Deshalb sind wir ja heute zusammengekommen, ob jetzt hier in dieser Kirche oder per Livestream. Wir wollen uns von nichts Anderem, als dem Wort Gottes ausrichten lassen. Wir wollen uns mit der Jahreslosung für das Jahr 2021 beschäftigen. Sie steht im Lukasevangelium Kapitel 6 Vers 36 und lautet: Jesus Christus spricht: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Dieses Bibelwort ist eine Aufforderung und zugleich eine Zusage. Es ist eine Aufforderung: Denk nicht nur an dich. Denk auch an die anderen. Sei nicht hartherzig. Sondern habe ein Herz für die Armen, also für die, die deine Hilfe brauchen. Im Wort Barmherzigkeit stecken die Begriffe „arm“ und „Herz“ drin. Es bedeutet ein Herz für Arme, also Hilfsbedürftige zu haben.

Die Jahreslosung ist auch eine Zusage. Es gibt einen, der barmherzig ist. Der hat ein Herz für die, die seine Hilfe brauchen und darum bitten. Das ist unser himmlischer Vater.

Wir Menschen sind oftmals nicht barmherzig, sondern unbarmherzig. Ich denke an eine Episode aus dem Kinderbuch „Madita“ von Astrid Lindgren:

Madita wird in der Schule gemeinsam mit den anderen Kindern abgefragt. Die Lehrerin fragt: Was ist Barmherzigkeit? Ein Junge antwortet: Niemanden verprügeln! Ein Mädchen fügt hinzu: Brav und lieb sein. Dann fragt die Lehrerin nach einer passenden biblischen Geschichte. Madita antwortet: Der barmherzige Samariter. Sie kann die Geschichte sogar erzählen. Dann ruft die Lehrerin einen Mitschüler auf, der offensichtlich unbeteiligt war. Sie fragt: Viktor, was hat der barmherzige Samariter zum Wirt gesagt, als er ihm den Verwundeten anvertraut hat? Viktor ist ein zupackender Kerl, sprachlich vielleicht nicht allzu gewandt. Er sagt: Er soll ihn umlegen, und dann wird er es ihm heimzahlen.

Ob es nun von Viktor sprachlich ungeschickt ausgedrückt war oder er einfach die Geschichte nicht verstanden hat, auf jeden Fall hat er die bittere Erfahrung ausgedrückt, die wir Menschen immer wieder machen: Andere werden umgelegt, fertiggemacht. Und uns wird heimgezahlt. Menschen werden mit Worten oder mit Fäusten niedergemacht, unbarmherzig. Und wir selber schaffen es oft auch nicht, barmherzig zu sein, vielleicht, weil wir selber unbarmherzig behandelt worden sind, weil wir nicht verzeihen können, den anderen und uns selber auch nicht.

Aber Gott ist barmherzig. Von seinem Wesen her ist er Barmherzigkeit. Diese göttliche Eigenschaft darf man nicht mit menschlichem Mitleid verwechseln. So können Eltern aus falschem Mitleid Dinge durchgehen lassen, wo sie eher hart und nicht weich reagieren müssten. Oder unser Mitleid kann sich als Gefühl äußern. Aber es folgen keine Taten.

So las ich einmal von zwei Schwestern. Die eine brach bei traurigen Berichten und Bildern in Tränen aus. Die andere ließ dies eher kalt. Aber wenn es um konkrete Hilfe ging, konnte die erste mühelos nein sagen. Die zweite konnte sich erstaunlich selbstlos engagieren, wenn sie jemanden in Not sah. Wer von den beiden war nun barmherzig gewesen?

Bei Gott ist sicher beides da. Zum einen zerrreißt es ihm das Herz, wenn er sieht, wie seine Geschöpfe, die Menschen, gequält und gepeinigt werden, durch Krankheit etwa, andere Menschen oder eigene Schuld. Auch wenn wir Gott in seinem Handeln nicht immer verstehen, auch wenn wir vielleicht versucht sind zu denken, Gott kümmert sich nicht um das Leid der Menschen. Das stimmt nicht. Gott überlegt sich immer, wie er ihnen gegenüber barmherzig sein kann und handelt auch entsprechend.

Gott ist barmherzig. Oder anders gesagt: Er meint es gut mit uns, obwohl wir das gar nicht verdient haben. Denken wir an Martin Luthers Erklärung zum ersten Glaubensartikel. „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter, mich reichlich und täglich versorget … und vor allem Übel behütet und bewahrt …“ Und dann schließt die Erklärung: „… und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohne all mein Verdienst und Würdigkeit…“ Alles in unserem Leben ist ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes. Daran erinnert uns die Auslegung Martin Luthers.

Die Tatsache, dass wir leben und noch leben und ein neues Jahr beginnen können – Barmherzigkeit Gottes. Alle Gaben des täglichen Lebens, dass wir in einem reichen Land leben, in dem wir in Frieden und Freiheit leben können – Barmherzigkeit Gottes. Das alles und noch viel mehr schenkt uns Gott, obwohl er weiß, wie wir sind, wie wir oft selber so unbarmherzig und undankbar sein können.

Bernd Siggelkow ist der Gründer der „Arche“ einem inzwischen deutschlandweit tätigen Hilfswerk für Kinder. Er hat zu unserer Jahreslosung unter anderem Folgendes geschrieben:

„Vor einigen Jahren habe ich angefangen zu beten, dass Gott mir zeigt, wie er liebt. Ich wollte erkennen, was es bedeutet, Menschen aus der Sicht Gottes zu sehen und zu lieben. Ich wollte ihn besser verstehen können. Manchmal wünschte ich, dass ich dieses Gebet niemals ausgesprochen hätte. Denn ich bin schon das ein oder andere Mal in Situationen gekommen, in denen mir die Tränen wie Wasserfälle über die Wangen geflossen sind. Persönliche Enttäuschungen, vergeblicher Einsatz für Menschen, Ablehnung, Verachtung, Zerbruch und vieles andere haben mich in Situationen geführt, die mich an den Rand meiner Kraft gebracht haben. Am Ende solcher Tage lag ich oft im Bett und hatte das Gefühl, dass Gott mir sagt: „Siehst du, solche Dinge erlebe ich tausendfach – und hunderttausendfach ist meine Bereitschaft zu vergeben. Du wirst enttäuscht, ich werde millionenfach enttäuscht.“

Ja, Gott wird millionenfach enttäuscht. Doch seine Antwort ist milliardenfache Barmherzigkeit. Seine Barmherzigkeit hat ihn aus dem Himmel auf die Erde getrieben. Davon haben wir in den letzten Tagen an Weihnachten in den Gottesdiensten gehört. Verdient hätten wir Menschen es nicht. Verdient hätten wir seine Strafe. Das tut er auch oft genug. Aber von seinem Wesen her ist Gott eben Barmherzigkeit. Deswegen wurde er Mensch in Jesus Christus. Wo er nur konnte, zeigte er in Wort und Tat Gottes Barmherzigkeit. So kamen einmal 10 Aussätzige zu ihm und baten ihn um seine Barmherzigkeit. Er heilte sie alle, auch wenn er wohl wusste, dass nur einer sich bei ihm dafür bedanken würde. Ein anderes Mal schleppten Männer eine Frau zu ihm. Sie war auf frischer Tat beim Ehebruch erwischt worden. Unbarmherzig wollten die Männer sie bestrafen und mit Steinen solange bewerfen, bis sie tot war. Doch Jesus machte diesen Anklägern klar, dass auch sie von der Barmherzigkeit Gottes lebten. Sie schlichen sich beschämt weg. Der Frau vergab Jesus ihre Schuld – aus Barmherzigkeit.

Schließlich führte ihn seine Barmherzigkeit ans Kreuz. Man schlug ihn, man verspottete ihn, peitschte ihn aus, zog ihn nackt bis auf die Haut aus und schlug ihn ans Kreuz. Dort verhöhnte man ihn und forderte ihn heraus: „Wenn du der Sohn Gottes bist, wie du behauptest, dann steig doch herab vom Kreuz.“ Er hätte es tun können. Er hätte es all seinen Feinden und Spöttern zeigen und sie auf der Stelle in die Hölle fahren lassen können. Aber er tat es nicht. Stattdessen bat er für seine Mörder um Vergebung: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Stattdessen starb er für all diese Kotzbrocken unter dem Kreuz, die ihn verhöhnten und verspotteten, die kein Erbarmen mit ihm hatten. Er starb für alle Mörder, Diebe, Lügner, Ehebrecher, für alle Hasserfüllten, Neidischen und Eifersüchtigen, Hochmütigen und Gottesleugner. Er starb für dich und mich – aus Barmherzigkeit.

In dem Lied „Ich habe nun den Grund gefunden“ heißt es: „Es ist das ewige Erbarmen, das alles Denken übersteigt; es sind die offnen Liebesarme des, der sich zu den Sündern neigt, dem allemal das Herze bricht, wir kommen oder kommen nicht.“ Und weiter lesen wir: „Da findet kein Verdammen statt, weil Christi Blut beständig schreit: Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!“

Diese Barmherzigkeit erwartet Jesus auch von uns, von denen, die sagen, dass sie ihm nachfolgen wollen. Ich finde das heftig. Denn Barmherzigkeit, das haben wir ja gerade gehört, bedeutet mehr als nett zueinander zu sein. Das schaffen wir gerade noch aus eigener Kraft, meistens wenigstens. Aber barmherzig sein bedeutet ja auch zu vergeben, es bedeutet, Gutes tun, auch wenn wir nicht damit rechnen können, dass wir dieses Gute zurückbekommen. Es heißt sogar seine Feinde nicht zu hassen, sondern zu lieben.

Das ist zu viel, ich weiß. Das schaffen wir nicht, zumindest ich nicht. Das können wir nur mit der Barmherzigkeit tun, die wir selber durch Gottes Vergebung und seine Liebe erfahren haben.

Auf diesem Gebiet haben wir sicher im neuen Jahr viel zu lernen. Wir wollen neu lernen, wie sehr Gott uns liebhat und uns mit seiner Barmherzigkeit immer wieder, jeden Tag, Stunde für Stunde überschüttet, auf unsere tausenden Sünden mit hunderttausenden Liebeserweisen antwortet. Nur wenn wir das tun und uns immer wieder vor Augen halten, können wir, zumindest ansatzweise und stümperhaft, auch das andere tun: barmherzig sein.

Wir alle kennen ja das Vorbild für Barmherzigkeit: den barmherzigen Samariter. Auch er liebte seinen Feind, einen Juden, der unter die Räuber gefallen war. Seine eigenen Landsleute ließen ihn liegen, aber der Samariter hatte mit einem Mann aus dem verhassten und verfeindeten Volk Mitleid, das ihn zur tätigen Barmherzigkeit veranlasste.

Der Jude lag vor ihm. Und er machte keinen großen Bogen um ihn. Sondern er hob ihn auf seinen Esel und brachte ihn zu einer Herberge, wo er versorgt wurde.

Wo kannst du barmherzig sein? Was erwartet Jesus von uns? Es kann Geld sein, das Jesus von dir für Hungernde und Notleidende in dieser Welt haben will. Solche Barmherzigkeit ist oft die leichteste. Denn sie erfordert nicht viel Mühe und Zeitaufwand. Es kann Zeit sein, die du für einen anderen aufbringst, Einsatz von Kraft und Nerven. Deshalb brauchen ja auch die Krankenhäuser, die Altenheime, die Heime für Behinderte oder Waisenkinder dringend Arbeitskräfte. Es gibt nicht genügend Nachwuchs für diese Berufe. Vielleicht will Gott ja gerade dich in so einem Beruf haben? Denke einmal darüber nach und besprich es mit Gott im Gebet!

Immer wieder liegt jemand auf unserem Lebensweg und wartet auf Hilfe. Er wartet auf dich. Er wartet darauf, dass du dich um ihn kümmerst, so gut du es halt kannst. Oder dass du da hilfst, wo deine Hilfe gebraucht wird. Das sind oft ganz unscheinbare Dinge, die aber gemacht werden müssen. Und da gibt es in einer Gemeinde mehr als genug, Getränke ausschenken zum Beispiel oder aufräumen nach einer Veranstaltung. Beim Essen zubereiten helfen, wie beim Kartoffel schälen.

In einer christlichen Tagungsstätte im Württembergischen fragte regelmäßig der Leiter: "Wen drängt die Liebe Jesu zum Kartoffel schälen?" Wozu drängt dich die Liebe Jesu?

Es sind in der Regel ganz praktische Sachen, in denen wir Barmherzigkeit zeigen können: Geschirr abspülen, jemanden mit dem Rollstuhl Spazierenfahren, beim kids-Treff bei der Hausaufgabenhilfe mitmachen, auf dem „Kiwi“ mit Kindern spielen und mit ihnen reden, Kranke besuchen, wenn es denn wieder möglich ist, Traurige trösten, für ein Missionswerk etwas spenden, ein Paket für die Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ packen.

Viele unter uns tun das ja. Ich denke, weil sie sich haben anstecken lassen von der Barmherzigkeit Jesu. Sie tun es nicht, weil sie auf Lohn spekulieren. Aber Jesus hat solchen Menschen versprochen: Es wird ihnen nicht unbelohnt bleiben.

Dazu zum Schluss eine Geschichte: Werner Gitt hat sie erzählt. Ein kleines Mädchen konnte gerade in der Bibel lesen und fand dort das Wort Jesu: „Und wer einem dieser Geringen auch nur einen Becher kalten Wassers zu trinken gibt, … es wird ihm nicht unbelohnt bleiben“ (Matthäus 10,42). Daraufhin ging das Mädchen in die Küche, füllte ein Glas mit Wasser und rannte damit auf die Straße, um es jemandem zu geben.

Aber dort war gerade niemand, und so rannte sie weiter bis an den Waldrand. Dort traf es einen jungen Mann und bot ihm das Glas mit den Worten an: "Trink dieses Wasser im Namen Jesu!" Der Mann war erstaunt über diese ungewöhnliche Anrede. Weil er aber gerade Durst hatte, trank er das Wasser. Das Mädchen eilte mit dem leeren Glas nach Hause und stellte es in der Küche ab.

Es vergingen etliche Jahre. Das kleine Mädchen war inzwischen erwachsen geworden und hatte den Beruf der Krankenschwester erlernt. Eines Tages wird in ihrer Abteilung des Krankenhauses ein Mann eingeliefert, und als erstes packt er seine Bibel aus und legt sie auf den Beistelltisch. Da das nicht alle Tage vorkommt, spricht die Krankenschwester den Mann an, ob er gläubig sei. Nachdem er das bejaht, fragt sie weiter, wie er denn zum Glauben gekommen sei. Der Mann erklärt: „Es war noch in meiner Jugend. Ich sah keinen Sinn in meinem Leben und machte mich auf zum Wald, und war total verzweifelt. Aber am Waldesrand kam ein kleines Mädchen mit einem Glas Wasser auf mich zu und sagte: ‚Trink das im Namen Jesu!‘ Das hat mich dermaßen beeindruckt, dass ich mir eine Bibel kaufte und bald danach zum Glauben kam.“ Darauf die Krankenschwester: „Das kleine Mädchen von damals – das war ich!“

Durch das Umsetzen nur eines einzigen Bibelverses kam ein Mensch zum Glauben. Wer barmherzig ist, kann Großes bewirken.

Amen