Bayreuth, den 10.01.2021 Römer 12, 1-8

Liebe Gemeinde! 

Es gibt Sätze, die prägen sich ein und prägen auch. Nicht unbedingt, weil sie stimmen, sondern weil sie die Stimmung einer Zeit, den Zeitgeist wiedergeben. Einer von solchen Sätzen lautet so „Wenn jeder an sich denkt, dann ist doch an alle gedacht.“ Ganz gewiss nicht. Wenn jeder diesen Satz beherzigen würde, dann wären wir ein Volk von Egozentrikern und Egomanen. Dann würden sich die Starken durchsetzen und die Schwachen auf der Strecke bleiben. Und alle wären einsam. Sie denken ja nur an sich.

Paulus redet hier in unserem Predigtabschnitt ganz anders. Ihr seid keine Gruppe von Individualisten oder gar Egoisten, so ermahnt er die Gemeindemitglieder in Rom. Sondern ihr alle gehört zusammen. Ihr seid wie ein Leib, bei dem alle Körperteile, Glieder und Organe ihre Bedeutung haben. Alle gehören zusammen und hängen zusammen. Nur auf diese Weise funktioniert ein Körper.

In der Gemeinde in Rom gab es Christen, die standen in der Gefahr, zu hoch von sich zu denken, ihr Ego zu sehr zu lieben. Fromme Individualisten, die gerne auf andere herabsahen. Denen schärft Paulus ein: „Überschätzt euch ja nicht. Ihr habt eure Grenzen. Auch ihr seid nur ein Teil vom Ganzen.

Denke angemessen von dir. Das gilt nicht nur denen, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzen, sondern auch denen, die eher dazu neigen, sich zu klein zu machen. Vielleicht sind sie von Natur aus so. Vielleicht wurde es ihnen von Kindheit an eingeredet. „Du kannst nichts. Du taugst nichts.“ Ich denke an eine Studentin. Der sagten ihre Eltern: „Du packst das sowieso nicht mit dem Studium.“ Ein toller Start, wenn man so einen Satz wie einen schweren Rucksack mit sich herumschleppt.

Wie ist denn Ihr Selbstbild? Wie sehen Sie Ihre Stellung innerhalb dieser Gemeinde? Wenn man ein Gruppenbild von unserer Gemeinde machen würde, wo würden Sie sich hinstellen wollen? Ganz am Rand, weil Sie denken: Eigentlich gehöre ich gar nicht dazu? Ich bin ein Außenseiter oder ein Randsiedler? Ganz hinten, weil sie denken: Ich bin doch nichts Besonderes? Auf mich kommt es doch nicht an? Einfach mittendrin, umgeben von möglichst vielen, weil sie einfach dabei sind und viele mögen? Oder ganz vorne, weil Sie meinen, eine wichtige Rolle in dieser Gemeinde zu spielen?

Ich denke: Wichtig sind ein gesundes Selbstwertgefühl und eine gesunde Demut. Das gesunde Selbstwertgefühl sorgt dafür, dass ich mich nicht zu klein mache, so klein, dass ich mich am liebsten in ein Loch verkriechen möchte. Und die gesunde Demut sorgt dafür, dass ich nicht überheblich werde.

Und wie bekomme ich so ein Denken? Paulus schreibt hier: Durch Gnade. Gnade hat ihm Gott geschenkt, und auch der Gemeinde in Rom. Gnade ist unverdiente Liebe Gottes zu mir, auch wenn ich noch so lieblos bin. Gnade ist unverdiente Vergebung trotz all meiner Schuld. Gnade ist ein Gebrauchtwerden im Reich Gottes und in der Gemeinde, trotz meiner Fehler und Schwächen.

Die grundlegende Erfahrung der Gnade ist die der Vergebung. Es ist die Zusage: Du bist ein Kind Gottes, trotz deiner Sünde. Du bist von ihm geliebt, gewollt und gebraucht. Wer Gnade empfangen hat, der darf voller Zuversicht sagen: „Ich gehöre zu Gott.“ Und er darf gleichzeitig voller Demut sagen: „Es ist Gnade, unverdiente Gnade.“

Es kommt nicht auf meine Leistung an. Bevor ich etwas geleistet habe, hat mich Gott in seiner Gnade angenommen. Und wenn mir dann im Leben als Christ etwas gelungen ist, muss ich sagen: Das habe ich der Gnade Gottes zu verdanken. Und wenn mir etwas danebengegangen oder misslungen ist, bleibe ich trotzdem ein begnadetes Kind Gottes. Ich bin und bleibe begnadigt. Denn wo die Sünde mächtig geworden ist, ist die Gnade noch viel mächtiger geworden, sagt Paulus ein paar Kapitel vorher im Römerbrief.

Durch die Gnade gehöre ich auch nicht nur zu der Gemeinde, sondern auch zum Leib Christi. Ich gehöre dazu, untrennbar. Das ist Gnade. Ich gehe davon aus: Ich werde kein Olympiasieger mehr, kein Fußballweltmeister, kein Bundeskanzler, kein Nobelpreisträger und kein Superstar, dessen Lieder man landauf, landab trällert. Und würde ich wider alles menschliche Erwarten doch noch eine steile Karriere auf irgendeinem Gebiet hinlegen, bliebe ich doch nur ein Glied am Leibe Christi. Mehr kann ich nicht werden.

Ich sprach vorhin vom Gruppenbild unserer Gemeinde und fragte: „Wo würden Sie sich hinstellen?“ Vielleicht haben Sie sich gefragt: „Und wo, lieber Pfarrer Opitz, würdest du dich hinstellen?“ Ja, ich würde mich vorne hinstellen, nicht weil ich meine, dass ich dahingehöre. Wenn ich auf mein Herz hören würde, dann würde ich mich irgendwo hinstellen, wo ich nicht auffalle. Aber Gott hat mich in dieser Gemeinde vorne hingestellt, als Leiter dieser Gemeinde. Auch wenn ich mich manchmal frage: Warum? Die Antwort ist klar: Aus Gnade. Nur aus Gnade. Aber, und das muss jeder, den Gott vorne hingestellt hat, immer wieder sagen: Gott liebt dich nicht wegen deiner Leistung. Er liebt dich einfach so, weil, ja, weil er dich lieb hat.

Es ist natürlich schön, wenn man Anerkennung erfährt. Aber schon die alten Römer haben etwas Schlaues gemacht. Wenn ein siegreicher Feldherr im Triumphzug durch die Straßen Roms zog und das Volk ihm zujubelte, da musste hinter ihm auf dem von Pferden gezogenen Wagen ein Sklave stehen, der ihm andauernd zurief: „Bedenke, du bist auch nur ein Mensch!“ Wir alle in dieser Gemeinde, ob vorne, hinten oder mittendrin, sind alle zusammen nur Menschen, die Gottes Gnade erfahren haben. Diese Erfahrung verbindet uns. Wir gehören zusammen, ein jeder an seinem Platz.

Es geht um jeden Einzelnen. Auf den Geringsten und Unbegabtesten, auch den Schlimmsten und Schlechtesten kommt es an. Der gehört auch dazu. Der Leib Jesu Christi, das heißt seine Kirche, hat viele Glieder. Und jedes einzelne ist Jesus, der das Haupt ist, wichtig. In der Kirche sollte niemand das Gefühl haben: Mich braucht keiner. Ich bin überflüssig. Auf mich kommt es nicht an.

Ich möchte die Gemeinde einmal mit einem Mobile vergleichen, wie es in vielen Zimmern hängt und von der Decke schwebt. Da hängen viele einzelne Teile dran. Und sie sind so miteinander geordnet, gewichtet, dass sie sich gegenseitig in der Schwebe, im Gleichgewicht halten. Wenn ein Teil sich bewegt, bleiben die anderen davon nicht unberührt. Und wenn man auch nur ein kleines Teil entfernt, so kommt das ganze Mobile aus dem Gleichgewicht.

Verfolgt man die Fäden nach oben hin, so stellt man fest, dass letztlich alle „an einem Faden“ hängen. Dieser Faden in der Kirche ist Jesus Christus. Er ist der Fixpunkt, der Angelpunkt, das feststehende Teil. Ohne ihn würde alles in die Tiefe stürzen und heillos durcheinanderkommen.

Paulus gebraucht hier ein anderes Bild, das vom Leib Christi. Die Gemeinde wird mit einem lebendigen Organismus verglichen. In einem Organismus sind die einzelnen Glieder voneinander abhängig. Sie können nur im Verbund leben. Das Herz kann nicht ohne die Lunge existieren und umgedreht. Arme und Beine sterben ohne Verbindung mit dem Blutkreislauf des Körpers ab.

Ein anderes Beispiel: Wenn ein Mensch läuft, so sind dabei nicht nur die Füße und Beine einbezogen. Da müssen auch das Rückgrat und die Muskeln, die es stützen, mitmachen. Selbst die Arme sind in das Laufen miteingeschlossen. Wenn man sie nicht mitbewegen würde, würde das irgendwie komisch aussehen.

Für die Harmonie der Glieder untereinander sorgt eine Zentrale, der Kopf, das Gehirn. Das Haupt der Gemeinde ist Jesus Christus. Er soll für das Zusammenspiel der Glieder untereinander sorgen.

Nehmen wir als bildlichen Vergleich einen Hausbau. Vor 15 Jahren etwa habe ich hautnah miterlebt, wie das ist, wenn ein Haus gebaut wird, sogar ein besonderes Haus, der Anbau dieser Kirche, der ja wie ein Neubau war. Da gab es den Architekten, in diesem Fall den uns allen wohl bekannten Helmut Scherm. Er hatte die Pläne entworfen. Er hatte die Bauleitung. Ohne ihn ging gar nichts. Er hatte eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe. Allerdings er alleine konnte so einen großen Anbau nicht bauen. Da gab es einen Statiker. Der muss ausrechnen, ob die Wände und Decken stark genug sind. Da gab es einen Elektroprojektanten. Der musste die Pläne für die Elektroarbeiten machen. Eine Firma musste die nötigen Abreißarbeiten machen, eine Baufirma den Rohbau hochziehen, Zimmerer den Dachstuhl errichten, Trockenbauer die abgesenkte Decke einziehen, Fliesenleger den Fußboden, und, und, und. Jeder, der an diesem Bau mitwirkte, hatte eine bestimmte Aufgabe. Die wurde ihm vom Bauleiter, in diesem Falle von unserem Architekten, zugeteilt. Alle mussten zusammenarbeiten und sich genau nach dem Plan richten. Und jeder war wichtig. Alle waren daran beteiligt, dass wir hier jetzt seit fast 15 Jahren eine schöne Kirche haben.

Unser Bauleiter ist Jesus Christus, der Bauleiter auch dieser Gemeinde. Er hat den Plan festgelegt, schon seit 2000 Jahren. Der sieht so aus: Menschen sollen zum Glauben an ihn finden, mit ihm leben, seine Liebe erfahren und sie an andere weitergeben. Wie jeder Bauleiter legt auch Jesus Wert darauf, dass man seinen Anweisungen gehorcht. Wenn jeder macht, was er selber will, gibt es ein großes Durcheinander.

Jesus gehorchen setzt voraus, dass wir bereit sind, seine Stimme zu hören. Deshalb ist es so ungeheuer wichtig, dass wir auch regelmäßig in der Bibel lesen und auch den Gottesdienst besuchen, wo wir seine Stimme hören können. Nur dann kann er uns führen und leiten, kann uns den rechten Weg zeigen, auf den wir gehen sollen. Sonst gehen wir nur unsere eigenen Wege, die in die Irre führen, wodurch wir uns selber nur viel Mühe und Unglück bereiten.

Jesus, unser Leiter, fügt uns zu alle zu einem harmonischen Ganzen zusammen, dass wir nicht nur religiöse Individuen sind, sondern solche, die eine bestimmte Aufgabe in seiner Gemeinde haben. Dadurch wird unser Leben gesegnet und sinnvoll.

Bei Jesus dürfen wir hören und zur Ruhe kommen. Aber er ruft uns auch zum Einsatz und Engagement für seine Sache. Der Glaube an Jesus macht nicht ängstlich, sondern engagiert. Viele Fragen, die uns bewegen, kommen aus der Angst heraus: Geht es mir gut? Komme ich zu meinem Recht? Kann ich mich verwirklichen? Werde ich anerkannt? Bin ich im Alter genug abgesichert? Habe ich genug für meine Gesundheit getan? Fragen, die sich im Grunde nur um das eigene Wohl drehen, Fragen, die Ausdruck einer tiefen Angst sind.

Jesus möchte uns durch sein Wort und seinen Geist dazu bringen, dass wir uns andere Fragen stellen, Fragen aus seiner Liebe heraus: Wo werde ich gebraucht? Wo ist jemand einsam? Wo liegen meine Gaben, die ich in der Gemeinde einsetzen kann? Wo kann man Kinder fürs Leben erziehen? Wie kann man Kranke und Sterbende trösten? Wie kann man hoffnungslosen Menschen Mut machen? Diese Fragen nach den vielfältigen Aufgaben der Liebe kommen aus einer großen Einfalt heraus, aus der Einfalt des Glaubens. Wer vertraut, dass er bei Jesus nicht zu kurz kommt, bei dem weicht auch die Angst, dass sein eigenes Leben verkümmert, bei dem wächst auch die Liebe zum anderen, der lässt sich auch von Jesus gebrauchen.

Dann wird auch die Gemeinde immer mehr ein Ort, der er sein soll: Wo jeder angenommen ist, keiner sich allein und verlassen vorkommt und auch jeder kommen darf.

„You are welcome!“ „Sie sind willkommen!“ Diesen Satz habe ich wohl dreimal gehört, als ich vor Jahren einmal eine christliche Gemeinde in Kalifornien besuchte. Dieser Satz hat gutgetan. Mein Freund und ich hatten nämlich spontan beschlossen, an dem Gottesdienst dort teilzunehmen, auch wenn wir nicht unseren Sonntagsanzug dabeihatten, sondern nur T-Shirt, kurze Hosen und Turnschuhe anhatten. Kurz vorher waren wir im Meer Baden und hatten keine Gelegenheit gehabt, unsere Haare zu trocknen und zu kämmen. Wir sahen also ziemlich „verhauen“ aus. Trotzdem sahen wir keine musternden Blicke, sondern hörten immer wieder diesen freundlichen Satz: „You are welcome!“ Dieser Satz hat mich mehr beeindruckt als das riesige Gelände und die riesige Kirche mit mehreren tausend Sitzplätzen.

So sollte Gemeinde sein: Ein Ort, wo jeder willkommen ist, auch der Ungepflegteste und Heruntergekommenste. Jesus hat auch die Sünder angenommen. Mit dieser seiner Liebe sollen und können wir auch jeden willkommen heißen, so dass er sich sofort wohl und angenommen fühlt.

So, durch diese Liebe Jesu, wird Gemeinde gebaut. Sie ist es, die die Menschen anzieht und sie auch den suchen lässt, der diese Liebe gibt: Jesus Christus.

Amen