Bayreuth, den 14.02.2021 Amos 5,21-24

Liebe Gemeinde! 

Eigentlich ein perfekter Gottesdienst – damals vor 2780 Jahren in Bethel in Israel. Volles Haus, nicht spärlich besucht. Musikalisch ein Hochgenuss. Posaunen- und Harfenklänge. Gesang aus voller Kehle. Dann auch noch üppige Opfer, so wie Gott es den Israeliten im Alten Testament befohlen hatte. Doch dann dieser Schock. Ein Ruhestörer tritt auf. Er heißt Amos. Mit lauter Stimme sagt er seine Botschaft, im Namen Gottes. Ich lese einmal seine Worte vor, die er gesagt hat. Sie stehen im Prophetenbuch Amos, Kapitel 5 Vers 21 bis 24.

(Verlesung des Predigttextes)

Was wäre eigentlich, wenn so ein Amos in unserer Kirche auftreten würde? Nehmen wir mal an: Nach einem schönen Orgelvorspiel, oder nach einem gesungenen Solo oder gar während der Abendmahlsfeier würde er nach vorne zum Altar rennen und in die Festversammlung hineinrufen: Hört auf damit! Ich kann eure Lieder nicht mehr hören und euer Geklimpere auf der Orgel und am Piano. Mich kotzen eure Gottesdienste an.“ Es herrschte wohl zunächst peinliche Stille. Und dann würden wir so schnell, wie es geht, diesen Spinner zur Ruhe bringen und ihn am besten möglichst diskret aus dem Gottesdienst entfernen.

So geschah es zumindest damals im Jahr 760 vor Christus in Bethel. Amos musste das Heiligtum in Bethel verlassen. Man erteilte ihm Hausverbot. Er musste das Land Israel verlassen und wieder in seine Heimat nach Juda zurückkehren. Die Verantwortlichen in Israel, Priester, König und die reichen Bürger wollten keine Veränderungen. Veränderungen können ja gefährlich sein.

Davon erzählt eine Geschichte: Ein Ehepaar war 25 Jahre verheiratet. Die Silberhochzeit steht an. Plötzlich erscheint eine Fee. Beide hätten einen Wunsch frei. Die Frau wünscht sich eine Weltreise. Der Mann wünscht sich, dass seine Frau dreißig Jahre jünger wäre. Am Tag der Silbernen Hochzeit lag tatsächlich ein Ticket da, - und der Mann war plötzlich 90 Jahre alt geworden.

Ja, Veränderungen sind gefährlich! Sie betreffen vielleicht mich und beginnen bei mir selbst. Deshalb wollte auch in Israel niemand etwas von Veränderungen hören. Dabei waren sie so bitter nötig. Im alten Israel zur Zeit des Amos schien die Welt zwar in Ordnung zu sein. Es war anders als bei uns. Damals besuchten sämtliche Gemeindeglieder in schöner Regelmäßigkeit die Festgottesdienste. Sie hatten allen Grund, Gott dankbar zu sein. Es herrschte Frieden. Die Wirtschaft brummte. Handel und Gewerbe blühten. Besonders die Oberschicht hatte es zu einem beträchtlichen Wohlstand gebracht. Die „oberen 10000“ konnten in Luxus schwelgen. Sie vergaßen auch nicht, Gott für ihren Wohlstand zu danken. Man hielt prächtige Gottesdienste mit üppigen Opfern ab.

Alles schien in bester Ordnung. Was sollte sich schon ändern? Amos gab als Antwort auf diese Frage: Euer Leben sollte sich ändern! Daran dachten die Gottesdienstbesucher nicht. Ihr Wohlstand war auf Unrecht aufgebaut. Viele Israeliten waren sozial abgehängt. Sie bekamen nichts von dem wirtschaftlichen Aufschwung mit ab. Im Gegenteil. Gerade die arme Landbevölkerung wurde immer ärmer. Manche verloren ihr Hab und Gut. Manche sogar ihre Freiheit. Sie mussten bei den Reichen als Sklaven arbeiten, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten.

Die Reichen feierten in Seelenruhe ihre Gottesdienste. Sie gingen nach Hause. Aber das Elend ihrer verarmten oder gar versklavten Volksgenossen kümmerte sie nicht. Fromm im Gottesdienst, gottlos im Alltag. So sieht kein authentischer Glaube aus.

Wir leben sicher in anderen Zeiten. Schon längst besuchen nicht mehr alle Gemeindeglieder wie damals zur Zeit des Amos die Gottesdienste. Wer kommt, den bedeutet der Gottesdienst etwas. Niemand wird ja gezwungen. Keiner wird ja dumm angeschaut, wenn er nicht kommt. Eher im Gegenteil. Es kostet etwas, den Gottesdienst zu besuchen, zumindest einen gemütlichen Vormittag, den man bei einem gemütlichen Frühstück oder im Bett verbringen könnte.

Aber ist deshalb nun alles in Ordnung? Ich kann nicht in die tiefsten Tiefen Ihrer und eurer Herzen schauen. Aber Gott kann es. Und jeder kann sich nun selber prüfen, ob das, was ich nun sage, auf ihn zutrifft.

Es gibt einen preisgekrönten Roman. Er heißt „Tagebuch eines Landpfarrers“. Darin schildert der Dichter Georges Bernanos das Leiden eines Priesters. Mit Schrecken nimmt er wahr, wie sich sein Glaube im Laufe der Zeit verändert. Er hat ihn nicht verloren, sagt er. Aber er hat aufgehört, dem Leben Form zu geben. Das ist alles. Aber das ist viel. Das ist das entscheidende Drama eines Christseins.

Da kann man noch den Gottesdienst besuchen, aber der Alltag, das eigentliche Leben, läuft doch mehr oder weniger ohne Gott ab. Selbst wenn man zuhause auch betet oder in der Bibel liest, kann es doch mechanisch geschehen, vor allen Dingen, wenn man es jahre- und jahrzehntelang praktiziert. Man tut es, aber das Herz ist nicht dabei. Der Glaube prägt nicht das Leben, gibt ihm keine Form. Denn die Liebe zu Gott und dann auch die Liebe zu den Mitmenschen ist abhandengekommen.

Die Beziehung zu Gott kann so eine Entwicklung nehmen wie die zu einem geliebten Menschen.

In der ersten Zeit war nichts wichtiger als dem geliebten Menschen nahe zu sein. Man freute sich auf jedes neue Zusammentreffen. Man konnte sich gar nicht oft genug sehen und miteinander reden. Ihm zuliebe hat man auf manches verzichtet, hat man die Zeit viel lieber miteinander verbracht. Der Geliebte war der wichtigste Mensch, den es gab, alles andere war weit abgeschlagen. Die Zeit der ersten Liebe.

Doch dann kommen auch andere Zeiten. Man hat sich aneinander gewöhnt. Nach langen Jahren der Ehe empfindet man es nicht mehr als etwas Besonderes, mit dem Ehepartner zusammen zu sein. Es können Zeiten der Gesprächslosigkeit sein, Zeiten, in denen man sich nicht mehr so viel zu sagen hat wie früher. Man ist nicht mehr dankbar für das Geschenk des Ehepartners. Man nimmt es für selbstverständlich.

Im Christsein kann es ganz ähnlich sein. Der Glaube hat bei einem angefangen. Nichts wichtiger als mit ihm im Gebet zu reden und das zu hören oder zu lesen, was er mir sagt. Doch dann schleicht sich Routine im Glaubensleben ein. Vieles, wie Gottesdienstbesuch, Beten, Bibellesen geschieht mechanisch, ohne dass das Herz dabei ist. Und als Folge verliert man auch den Mitmenschen aus den Augen, gerade den bedürftigen Mitmenschen, der unsere Aufmerksamkeit, Hilfe und Liebe bräuchte. Und man ist vielleicht doch insgeheim stolz darauf, dass anders als vielen in unserem Land die Kirche einem noch etwas bedeutet und man noch den Gottesdienst besucht.

Dann kann noch eine Akzentverschiebung geschehen. Klar, wir wollen, dass der Gottesdienst schön ist, dass er auch unsere Gefühle und unser ästhetisches Empfinden anspricht. Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Aber es kann, egal bei welchem Musikstil, es passieren, dass wir den schönen Sound genießen, die schöne Stimme einer Sängerin, die gute Musik einer Band, die stimmungsvolle Begleitung einer Orgel. Und hören gar nicht so richtig die Botschaft des Evangeliums, die in einem Lied drinsteckt.

Es kommt nicht darauf an, dass wir einen Gottesdienst als schön empfinden. Oder eine Predigt als toll. Sondern das Entscheidende ist, ob da etwas an uns passiert: Dass wir die Stimme Gottes hören, die uns anspricht, tröstet, mahnt, vergibt, Impulse für unseren Alltag gibt.

Und noch einen Punkt möchte ich ansprechen. In den Gottesdiensten und in den Versammlungen unter der Woche in unserem Gemeindezentrum trifft man zweifellos viele nette Leute. Das haben Christen ja oftmals so an sich. Bei diesen Zusammenkünften kann es so richtig gemütlich sein. Man versteht sich ja, kennt sich schon lange, hat sich manches zu erzählen. Nichts gegen eine gute Gemeinschaft. Es wäre ja schlimm, wenn es anders wäre! Aber hoffentlich ist nicht sie das Wichtigste. Hoffentlich steht nicht das Interesse am anderen im Mittelpunkt, so nett er auch sein mag, sondern Gott und sein Wort. Dann wären die Christen nämlich auch nur ein Hobbyclub, wo man sich über gemeinsame Interessen austauscht. Dann würde uns von Stammtischgesellschaften nicht allzu viel unterscheiden.

Versammlungen von Christen als geschlossene Gesellschaft – das wäre schlimm. Wenn da kein anderer mehr reinkommt, weil man sich selbst genug ist, weil man ihn nicht braucht und eigentlich gar nicht will. Denn er würde ja vielleicht nur stören. Kommen vielleicht deshalb so wenige Außenstehende, weil sie spüren oder ahnen, dass sie eigentlich nur stören?

Wir brauchen wohl alle eine ganz neue Leidenschaft für Jesus, so eine, wie sie zum Beispiel ein Graf Zinzendorf hatte. Wir kennen ihn ja als Erfinder der Losungen. Er glaubte schon in jungen Jahren an Jesus, war ein gläubiger, bekehrter Christ. Aber es war wohl kein Christentum, dass sich ganz praktisch in seinem Leben auswirkte.

Anders ist es nicht zu erklären, was er bei dem Besuch einer Gemäldegalerie erlebte. Er blieb vor einem Bild stehen, fasziniert und betroffen zugleich. Es stellte den Gekreuzigten dar. Am unteren Bildrand stand: "Das tat ich für dich, was tust du für mich?"

Dieses Erlebnis vor dem Bild in Düsseldorf war für ihn so eine Art zweite Bekehrung und weckte in ihm die Leidenschaft für Jesus. Dieser Gekreuzigte und seine Liebe prägte nun sein Leben. Er sagte: Ich habe nur eine Passion = Leidenschaft und das ist Jesus!

Diese Leidenschaft brachte ihn nicht dazu, dass er sich still in eine Ecke setzte und fromme Gefühle für Jesus entwickelte. Die hatte er zwar auch. Aber diese neue Leidenschaft veränderte sein ganzes Leben. Sie brachte ihn dazu, auf seinem Gut in Herrnhut Flüchtlinge aufzunehmen, egal welcher Konfession sie angehörten. Diese neue Gemeinschaft, die dadurch entstand, nannte er "Brüdergemeine".

Diese Leidenschaft brachte ihn und seine Freunde dazu, bis an die Enden der Erde zu fahren, um den Ärmsten der Armen Hilfe und das Evangelium zu bringen. Sie nahmen ihre selbstgezimmerten Särge als Überseekisten gleich mit, da sie nicht erwarteten, lebend nach Hause zurückzukehren. Sie ließen sich auf den karibischen Inseln als Sklaven verkaufen, weil sie nur so die aus Afrika verschleppten Sklaven erreichen konnten. Ihr ganzes Leben war geprägt von dieser Leidenschaft für Jesus.

Klar, wir sind nicht Zinzendorf. Wir sind keine Missionare der „Brüdergemeine“. Man kann so ein Christsein nicht eins zu eins nachmachen.

Aber man doch wie dieser Zinzendorf neu darüber ins Staunen kommen, was Jesus für mich getan hat und ihn im Gebet fragen: „Was willst du, dass ich für dich tue?“

Damit wären wir bei dem Ratschlag des Propheten Amos: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Vor dem Hintergrund des vorhin Gesagten können wir diese Worte nun nicht als Forderung verstehen. Gerechtigkeit meint nicht: Es ist mir ein Gesetz auferlegt, und ich muss es erfüllen. „Gerechtigkeit“ bedeutet schon im Alten Testament Gottes helfende Gerechtigkeit, die neu schaffende, aufbauende, zu-Recht-bringende Heilstat Gottes. Gott will uns seine Gerechtigkeit schenken, so erfahren wir es auch im Neuen Testament.

Amos gebraucht hier das Bild vom fließenden Wasser für die Gerechtigkeit, die der Mensch vor Gott haben soll. Jeder Bach und jeder Fluss hat eine Quelle. Diese Quelle ist für ihn Gott. Als Christen, die nicht mehr im Alten Testament leben, dürfen wir seine Worte in einem weiteren Sinn verstehen: Die Quelle der Gerechtigkeit für jeden Menschen ist Jesus Christus selber. Jesus sagte einmal: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Das heißt doch: Es ist alles vorhanden, womit ich vor Gott bestehen kann, und zwar im Überfluss. Gott will mich reich beschenken mit seinen Gaben, mit den Früchten des Geistes, von denen Paulus spricht, mit Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Sanftmut, Reinheit. Wir brauchen nur zu Jesus Christus zu kommen und aus seiner Fülle zu nehmen. Wer bittet, der empfängt. Und wer um den Heiligen Geist und um all die Gaben, die damit verbunden sind, bittet, wird das alles auch bekommen.

Es ist ja gut, wenn einer gemerkt hat und immer wieder erkennt: Mir fehlt ja alles, um vor Gott bestehen zu können, eigentlich bin ich überhaupt nicht so, wie ich sein sollte. Auch meine Frömmigkeit ist oft mehr Schein als Sein. Wenn ich das eingesehen habe, dann kann ja Gott eingreifen und mich mit seinen Gaben beschenken.

In einem Glaubenslied heißt es: „Denn solchen, welchen alles mangelt, die immer wieder neu versagt und denen vor sich selber banget, grad denen gilt: Nur nicht verzagt.“ Wo wir noch Schlimmes und Böses an uns sehen, da sieht Jesus schon Gutes und Wohltuendes, sein von ihm verändertes Wesen. Wo wir die Hoffnung aufgeben, dass aus uns noch ein rechter Christ wird, da hat er die beste Hoffnung, dass er noch etwas Rechtes aus uns macht. Seine Kraft ist immer in den Schwachen mächtig.

Wer immer wieder neu glaubt, dass Jesus ihn trotzdem liebhat, auch wenn er an sich wenig oder gar nichts Liebenswertes entdeckt, der wird auch immer seine Liebe erfahren. Von dem wird sie auch ausgehen. Dann kann unser Gottesdienst authentisch werden. Dann kann auch unser Leben als Christ authentisch werden, dass wir Menschen werden, von denen die Liebe Christi ausgeht.

Amen