Bayreuth, den 05.12.2021 Jesaia 63,15-16.19b; 64,1-3

Liebe Gemeinde! 

„Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?“ so fragt der Beter dieses Klageliedes. Es sind Worte, die vor über 2500 Jahren gesprochen worden sind. Und es sind Worte eines Menschen, der an Gott leidet, der nicht versteht, warum es seinem Volk, dem Volk Gottes, den Juden, so schlecht geht. Diese Frage klingt modern. Das erinnert an die Anklagen vieler Menschen: „Wo bist du Gott?“

Diese Frage taucht auf, wenn wir im Fernsehen die Bilder irgendeiner Katastrophe sehen. Diese Frage taucht an Krankenbetten auf: Warum muss gerade ich krank werden? Anderen, die nach Gott nicht fragen und von ihm nichts wissen wollen, geht es gut und erfreuen sich blendender Gesundheit! An Gräbern wird gefragt: Warum musste gerade mein Mann, mein Kind sterben und warum gerade jetzt?

Ich denke an den bekannten englischen christlichen Schriftsteller C. S. Lewis. Seine Frau stirbt nach kurzer Ehe. Nach ihrem Tod schreibt er. „Und wo bleibt Gott? … Geh zu ihm in verzweifelter Not, wenn jede Hilfe versagt, was findest du? Eine Tür, die man dir vor deiner Nase zuschlägt und von drinnen das Geräusch doppelten Riegelns.“

Zweifellos: Gott kann sehr hart erscheinen. Sein „Nein!“ um die Bitte einer Hilfe kann uns in den Ohren dröhnen wie eine vor der Nase zugeschlagene Tür.

So erging es auch dem Beter unseres Klageliedes, wie auch so vielen Menschen, vielleicht auch uns. Aber er verliert das Vertrauen Gott gegenüber nicht. Ganz im Gegenteil. Er klammert sich umso fester an Gott fest. Er klagt ihn nicht an, macht ihm keine Vorwürfe. Warum? Er hat zu seinem Schöpfer ein grundsätzliches Vertrauen, wie ein Kind zu seinem guten Vater. So redet er ihn auch an, gleich zweimal: Du, Herr, bis unser Vater! So eine Anrede Gottes ist übrigens einmalig im Alten Testament. An dieser Stelle hat hier Jesaja schon etwas vorweggenommen, was erst Jesus deutlich formulierte: Gott ist sein Vater. Abba nennt er ihn auf aramäisch. Das heißt eigentlich „Papa“. Gott ist auch unser Vater. Wer weiß, dass er durch den Glauben an Jesus ein Kind Gottes geworden ist, der darf Gott so nennen: Vater unser. So vertrauensvoll dürfen wir von Gott reden. Gott ist unser Vater, ja Papa.

Leider gibt es in unserer Zeit nicht wenige, die mit diesem Bild von Gott nichts anfangen können. Denn sie haben in ihrem Leben einen miserablen Vater erlebt, einen Vater, der nicht recht für seine Kinder gesorgt hat, der nie da war, der die Kinder und die Frau geschlagen hat, der trinkt, der die Familie verlassen hat. Und so soll Gott sein?

Nein, so ist er natürlich nicht. Gott ist so, wie sich jeder Mensch einen Vater ersehnt, auch wenn er in seinem Leben nie so einen kennen gelernt hat: Einer, der für einen sorgt, für einen da ist, einer, der stark aber doch gleichzeitig liebevoll ist, zu dem ich mit allen Problemen gehen kann ohne ausgelacht oder weggeschickt zu werden, einer, der sich Zeit nimmt und nur das Beste für mich will. So einen Vater wünschen wir uns doch alle. Und so ein Vater will Gott für uns sein.

Gott ist Vater. Andere Religionen wie im Islam reden übrigens nicht so von ihm. Mitten in der Fußgängerzone in der Stuttgarter Innenstadt hatten Christen einen Informationsstand aufgebaut. Einer von ihnen hielt eine kurze Ansprache. Er erzählte von einer pakistanischen, muslimischen Diplomatenfrau, die plötzlich in ihrem religiösen Suchen über den Worten Jesu in der Bibel erkannte: „Gott – mein Vater!“ Das war für sie so groß und wunderbar, dass sie zum ewigen und heiligen Gott wie ein Kind ganz schlicht und voll Vertrauen beten darf. Wie der Christ das auf der Straße erzählte, gab es mitten in der Ansprache ein wildes Getümmel. Türkische Muslime, die lange Zeit still zuhörten, drängten sich durch die Menge und riefen laut: „Allah – nix Vater!“ Der Christ konnte nicht mehr weitersprechen. Die Unruhe war zu groß. Viele der teilnehmenden Christen merkten erst jetzt, welch ein heißes Eisen da angepackt war. Darf man zu Gott wirklich „Vater“ sagen? Für Muslime unerhört, für Hindus und Buddhisten undenkbar.

Ja, das dürfen wir. Die Bibel zeigt uns keinen fernen Gott, dem man nur in ehrfurchtsvoller Distanz begegnen darf. Er ist zwar auch der heilige Gott, der gerecht ist und die Sünde straft. Aber er kümmert sich gleichzeitig in unendlicher Liebe um seine Geschöpfe wie ein Vater um seine Kinder. Er will nicht, dass auch nur eines von ihnen verloren geht, sondern dass sie zu ihm zurückfinden.

Deshalb ist er uns in Jesus Christus ganz nahegekommen, ist er Mensch geworden. Jesus ist für unsere Schuld am Kreuz gestorben. Er hat den Weg zu Gott, der durch unsere Sünde verbaut war, wieder freigemacht. Wir dürfen Gott Vater nennen, nicht, weil wir von Natur aus seine Kinder wären, sondern weil Jesus uns wieder dazu gemacht hat. Von Natur aus sind wir verlorene Söhne und Töchter. Aber Gott ruft uns zu sich. Er will unser Vater sein, ein guter Vater, der alles für seine Kinder tut. Und wir sollen seine Kinder sein, durch den Glauben an Jesus Christus. Wer Jesus im Glauben als seinen Herrn aufnimmt, der ist ein Kind Gottes. Und er darf nun voller Vertrauen sich in die Hände seines himmlischen Vaters bergen.

Eindrucksvoll stellt eine bekannte Plastik von Dorothea Steigerwald dieses kindliche Vertrauen dar. Sie heißt „Bleib sein Kind“. Man sieht, wie ein Kind in der großen göttlichen Hand liegt und schläft. Dies ist ein wunderbares Bild von einem Menschen, der sich bei Gott ganz geborgen weiß. Denn er ist sein himmlischer Vater.

Als Kind Gottes darf ich also glauben, dass mein Leben in der großen Hand meines Schöpfers liegt. Das heißt nun nicht, dass meine eigenen Hände untätig sind. Ganz im Gegenteil. Wie der Beter des Klageliedes darf ich sie falten und zu meinem himmlischen Vater beten. Diese Hände dürfen ihn selber umfassen. Sie dürfen, auch wenn dies respektlos klingt, ihn gewissermaßen schütteln und ihn um Hilfe anflehen.

Fromme Zurückhaltung ist bei Gott fehl am Platze. Luther drückt es mit seiner drastischen Sprache so aus: Du musst Gott solange mit seinen Versprechungen, seinen Verheißungen die Ohren reiben, bis sie heiß sind. Das darf jeder machen, den eigenes oder fremdes Leid bedrückt: Gott anrufen, ihm sein Anliegen vorlegen, ja gewissermaßen in den Ohren liegen.

Man kann es auch so ausdrücken: Ich darf auch einmal gegen Gott anbeten. Gegen den Gott, der mir plötzlich so fremd geworden ist, den ich doch ganz anders kennengelernt habe. Gegen den Gott der mir doch versprochen hat, mich nicht alleine zu lassen. So darf ich mit Gott reden: „Du hast doch gesagt! Du hast doch versprochen!“ So machte es auch Luther. Er drohte Gott im Jahr 1540, ihm den Sack vor die Füße zu werfen, wenn er seinen Freund nicht heilen würde. Und Gott erhörte sein stürmisches Gebet.

Lernen können wir auch von der kanaanäischen Frau. Sie bittet Jesus, dass er ihr krankes Kind gesundmacht. Doch dieser macht zunächst keine Anstalten, dies zu tun. Im Gegenteil. Er demütigt sie fast beleidigend. Doch sie lässt nicht locker. Sie bleibt dran an Jesus. Es geht ja nicht um irgendeine belanglose Sache. Es geht um ihr Kind. Schließlich kann Jesus nicht anders. Bewundernd lobt er ihren Glauben und macht ihre Tochter gesund.

So dürfen wir es auch machen. Dranbleiben bei Gott. Nicht lockerlassen im Gebet. Und wenn es Jahre dauert. Beharrlichkeit entwickeln. Ich spreche jetzt nicht von eigensinnigen Bitten, die aus dem Egoismus heraus gesprochen werden. Sondern es geht um Bitten, in denen es um das Kommen des Reiches Gottes geht, um seine Sache, um die Erfüllung seines Willens.

Und natürlich muss man auch sagen. Es gibt auch unerhörte Bitten: Die Bitte um Gesundheit. Aber man bleibt krank. Die Bitte um einen Ehepartner. Aber irgendwann ist der Zug abgefahren. Die Bitte um Kinder. Aber die Ehe bleibt kinderlos. So kann Gott auch handeln. Aber nicht, damit wir verbittern und resignieren. Sondern damit wir uns noch enger an Gott hindrängen und wie der Psalmist in kindlichem Vertrauen sprechen: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“

Aber grundsätzlich dürfen wir daran festhalten: Gott meint es auf jeden Fall gut mit uns. Er lässt uns nicht allein. Um die Erfahrung seiner Nähe dürfen bitten, in der Gewissheit, dass wir sie erfahren werden. Denn Gott ist kein ferner Gott, sondern ein naher. So nahe, dass er sogar Mensch geworden ist.

Daran denken wir ja besonders in der Advents- und Weihnachtszeit. Gott ist nicht in seiner Herrlichkeit geblieben, sondern ist uns ganz nahegekommen. An Weihnachten kam der Himmel auf die Erde. Aus Liebe zu uns Menschen trieb es Gott aus seinem unsichtbaren Reich zu uns herab. Seitdem ist Gott immer erfahrbar, jeden Tag. Denn Jesus hat seinen Jüngern und allen, die ihm vertrauen, versprochen: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Seitdem haben unzählige Menschen die Wahrheit dieses Satzes erfahren. Gott ist durch Jesus Christus ihr Vater und Erlöser geworden.

Mit dem Kommen Jesu ist das Reich Gottes in diese Welt hereingebrochen. Dadurch hat sich ein Stückweit die flehentliche Bitte in unserem Predigttext erfüllt: „Zerreiße den Himmel!“ Das heißt: Komm herab von deiner unsichtbaren Wirklichkeit. Ich möchte deine Nähe sichtbar spüren, erfahren. Alles Böse, alle widergöttlichen Mächte sollen besiegt werden. „Brenne wie Feuer! Darum bittet der Beter als zweites. Nach diesem Feuer Gottes sehnte sich auch Jesus, als er sagte: „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“ Wie wichtig ist es, dass auch wir um dieses Feuer bitten, das heißt um den Heiligen Geist!

Der Beter schließt eine dritte Bitte an: „Lass die Berge zerfließen!“ Alles, was uns von Gott trennt, soll weichen.

All diese Bitten können wir in einer zusammenfassen, in der Vaterunserbitte: „Dein Reich komme!“ Es ist uns allen aufgetragen, darum zu bitten: Dass es doch ein Ende hat mit dem Bösen in uns und in der Welt, dass endlich Schluss ist mit unserem Zweifel und unseren Sorgen, Schluss ist mit dem Furchtbaren, was in dieser Welt passiert, dass doch endlich, endlich Gottes Reich anbricht.

Dein Reich komme! Man kann diese Bitte auch so formulieren: In einer Welt, in der alles andere als Gott im Mittelpunkt steht, dürfen wir bitten und glauben: Christus wird siegen, was immer geschieht. Er behält das letzte Wort, in der ganzen Welt, und auch in unserem Leben.

Immer wieder dürfen und sollen wir um das Hereinbrechen des Reiches Gottes in diese Welt und unser Leben bitten, um die Invasion des Himmels, die mit dem Kommen Jesu, mit seiner Geburt anfing.

Freilich erfahren wir immer wieder die Macht des Reiches der Finsternis. Es mag bei uns viel geben, was uns niederdrücken und traurig machen will: Jammer und Elend, auch Schuld und Sünde in unserem Leben. All das und noch viel mehr mag uns belasten, dass wir vielleicht gar nicht mehr richtig glauben können.

Aber wir dürfen darüber nicht vergessen, wie es in einem Glaubenslied heißt: „Aber der Herr ist immer noch größer, größer als ich denken kann. Er hat das ganze Weltall erschaffen. Alles ist ihm untertan.“ Jesus ist mächtiger als alles, was uns niederdrücken will. Sein Reich ist im Kommen. Das Reich des Satans wird einmal verschwinden.

Dein Reich komme! Das ist eine Bitte, die uns oft fremd ist. Wir gehen auf in unserem Alltag. Alles geht seinen gewohnten Gang. Dann kann man leicht müde und gebetsfaul werden. Und der einzige Gebetsseufzer, den wir kennen, kann oft der sein: „Ach, wenn doch alles nur so bleibt, wie es ist!“

Das ist der Stoßseufzer eines satten, spießbürgerlichen Herzens! Es muss doch so viel anders werden, in unserer Welt und auch in unserem Leben.

Ich denke, das ist die Erklärung für die Gebetsarmut in unserem Leben: Wir fühlen keine Not, wir fühlen uns stark. Im Grunde genommen brauchen wir keinen Vater im Himmel, weil wir alles selber im Griff haben. Und merken nicht, wie satt und träge wir geworden sind. Und wie um uns herum die Mächte der Finsternis sich austoben und Triumphe feiern. Das darf doch nicht so bleiben!

Gott sucht Leute unter uns, die darum bitten, dass doch endlich sein Reich kommt, und sich nicht gleichgültig mit ihrem furchtbaren Zustand und dem der Kirche und dem der Welt abgefunden haben. Gott sucht Leute, die zu ihm sagen: „Mach doch endlich ein Ende mit dem Sterben in den Kriegen, mit dem Elend der Kranken und Hungernden. Gott sucht Leute, die sich wie dieser Beter auch für ihr Volk einsetzen und nicht nur an sich denken. Gott sucht Leute, die ihn daran erinnern, dass er uns als der Vater Jesu Christi versprochen hat, bei uns zu sein.

Wenn wir so leidenschaftlich beten, dann geschieht auch sein Eingreifen. Dann vergibt er Schuld, befreit aus Bindungen und Abhängigkeiten, eröffnet neues Leben, zerreißt der Nebel. Dann öffnet er uns den Mund für das Weitersagen seiner Botschaft, öffnet er auch Herzen und Hände zum Weitergeben seiner Gaben, zum Tun des Guten.

Wenn wir nicht aufhören zu bitten: „Dein Reich komme!“, dann wird es auch kommen, in unserem Leben, in dem anderer und schließlich auch einmal auf der ganzen Welt. Ganz gewiss.

Amen