Bayreuth, 15.05.2022 - Kolosser 3,12-17

Liebe Gemeinde! 

Der Dichter Friedrich von Sallet hat ein Gedicht geschrieben mit dem Titel: “Der Geiger”. Der geschilderte Vorgang ist folgender: Ein Geiger zieht durch das Land, und überall, wohin er kommt, begeistert er die Leute mit seiner Kunst. Ihn aber rührt diese Begeisterung nicht. Eher macht sie ihn traurig. Manchmal bricht er mitten im Stück ab. Denn er weiß, es ist nicht die Melodie, die er eigentlich spielen müsste. Das Lied, das er einst vom Vater mitbekommen hat, vom sterbenden Meister, - er hat es verloren.

So zieht er durch die Welt. Hinter allem, was er tut, steht eigentlich nur eins: Er möchte das Lied finden, das zu seinem Leben gehört. Erst am Ende seines Lebens, als sterbender Greis, findet er es wieder.

Jeder Mensch ist auf der Suche nach seinem Lied, nach seiner Bestimmung, letztlich nach dem Sinn seines Lebens. Ein Lied, das ihm Gott, sein Vater, gegeben und das er verloren hat. Was ist das nur für ein Lied, das seinem Leben einen letzten Sinn verleiht?

Es ist das Lob Gottes. Wir sind dazu auf der Welt, um Gott zu loben, oder anders ausgedrückt, um das dankbar widerzuspiegeln, was er uns geschenkt hat.

Unser Lob kann sich in Liedern ausdrücken. Es ist schön, wenn unser Mund Gott lobt. Und das tut uns auch gut. Dazu kommen wir ja auch Sonntag für Sonntag im Gottesdienst zusammen, um Gott in unseren schönen Liedern zu loben. Wir durften in den Gottesdiensten einige Monate nicht singen. Ihr erinnert euch sicher. Das ist mir sehr schwer gefallen. Und ich denke, ich war nicht der einzige, dem es so ging. Gottesdienst zu feiern, ohne zu singen, das geht eigentlich gar nicht.

In der Kirche muss gesungen werden, ob nun einer besonders musikalisch ist oder nicht, ob einer brummt oder piepst, ob er schief und schräg singt oder jeden Ton trifft. Das ist nicht entscheidend. Hauptsache, es wird gesungen. Es gibt sogar einen Sonntag, der heißt „Kantate“, auf deutsch „Singt!“. Heute ist dieser Sonntag. Christen haben Grund sich zu freuen und ihrer Freude mit einem fröhlichen Singen Ausdruck zu verleihen. Gerade sie. Denn sie haben Grund, Gott zu loben und zu danken.

Wir sind dazu auf der Welt, um Gott zu loben, habe ich vorhin gesagt. Das muss nicht nur mit unserem Gesang geschehen. Sondern, wie es in dem Lied „Nun danket alle Gott“ heißt, „mit Herzen, Mund und Händen“. Also unser ganzes Leben darf und kann die Liebe Gottes zu uns widerspiegeln.

Christsein heißt zu glauben: Ich bin von Gott geliebt, ich bin von ihm angenommen, er hat mir alle Schuld vergeben.

Paulus spricht hier von den Christen als den Auserwählten Gottes. Damit ist keine fromme Elite gemeint, Menschen, die Gott deshalb so liebhat, weil sie so anständig und brav sind. Ganz im Gegenteil. „Gott öffnet jedem die Tür“ heißt es in einem Lied, auch dem Schuldigsten.

Man muss sogar sagen: Nur der erfasst die Liebe Gottes und seine Vergebung, der die Tiefe seiner Schuld erkannt hat und den Abgrund seiner Verlorenheit. Die Auserwählten Gottes können auch Menschen sein, die große Schuld auf sich geladen haben.

Nur die vergebende Liebe Jesu kann das Fundament meines Lebens sein. Wer mit ihr nicht rechnet, der hat sein Leben auf Sand gebaut.

Auf dem Fundament der Vergebung Gottes kann nun weitergebaut werden, kann mein Lebenshaus entstehen. Die einzelnen Tugenden, die Paulus aufzählt, die Barmherzigkeit, die Freundlichkeit, die Demut, Sanftmut und Geduld kann man mit den Bausteinen vergleichen. Die Liebe ist nach den Worten von Paulus das Band der Vollkommenheit. Sie hält alle Tugenden zusammen. Die Liebe ist also mit dem Mörtel beim Hausbau vergleichbar, der alle Steine miteinander verbindet. Ohne die Liebe sind alle Tugenden wie lose Steine, die aufeinander geschichtet bald wieder zusammenfallen. Ohne die Liebe sind Barmherzigkeit, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld nicht viel wert, letztlich Heuchelei.

Von Liebe hören wir heute viel. Wenn ich „Liebe“ bei einer Suchmaschine im Internet eingebe, habe ich ungefähr 440.000.000 Treffer. In Schlagern und Popsongs wird immer wieder die Liebe besungen. Es ist meistens zärtliche Zuneigung oder Sex gemeint. Wenn Paulus hier von Liebe redet, dann meint er etwas Anderes. Es geht ihm um die selbstlose Liebe, die zuerst an das Wohl des anderen als an das eigene denkt. Liebe, das sind für ihn keine wonnevollen Gefühle, sondern handfeste Taten, zum Wohl für andere. Diese Liebe zum Mitmenschen ist uns allen nicht angeboren. Sie liegt uns nicht im Blut. Bei Belastungsproben im Alltag, wenn unsere Nerven strapaziert werden, merken wir das allzu deutlich. Zumindest mir geht das so. Ich vermute, bei euch wird das ganz ähnlich sein. Aber wir können uns diese Liebe von Gott schenken lassen. Wir können ihn darum bitten.

Paulus spricht in unserem Predigttext davon, dass wir die Liebe anziehen sollen, wie ein Kleid oder wie einen Anzug. Sie ist also uns etwas Fremdes, etwas das nicht zu uns gehört. Aber sie kann etwas sein, das wir gewissermaßen anziehen können oder sogar in uns drin ist. Paulus fordert hier seine Leser auf: „Tut alles im Namen des Herrn Jesus.“ Was ist damit gemeint? Wir sprechen ja zum Beispiel davon, dass Urteile im Namen des Gesetzes oder des Volkes gesprochen werden. Im Namen eines anderen zu handeln, heißt, dass eigentlich der andere handelt und nicht ich selbst. Im Namen Jesu handeln, bedeutet dann, dass nicht ich, sondern Jesus durch mich handelt. Paulus will sagen: Seid euch immer bewusst, dass euer Leben nicht euch gehört, sondern Jesus. Er ist der Herr in eurem Leben und nicht ihr selbst. Er wohnt gewissermaßen in euch. Daran denkt, dafür dankt immer wieder. Das wird euer Leben verändern.

Ein Beispiel kann uns diese Veränderung plastisch vor Augen führen. Stellen wir uns vor, wir wären ein Handschuh. Ein Handschuh ist nicht in der Lage, einen Gegenstand zu greifen, selbst wenn er, wie ein Fingerhandschuh, die Form einer Hand hat. Er hat keine Kraft in sich. Da nützen auch Appelle nichts. Sobald aber eine Hand in den Handschuh fährt, ist er genauso stark wie sie. Alles, was die Hand tun kann, wird auch dem Handschuh möglich sein, - aber nur solange er die Hand in sich trägt. So ist es, wenn Christus in uns lebt.

Es gibt engagierte Christen, die ihren Glauben ernst nehmen. Sie bemühen sich, recht zu leben und das zu tun, was Gott von ihnen will. Und doch können sie unendlich müde, schwach und frustriert sein. Das Christsein ist ihnen eher eine Qual als Freude. Dies liegt oft daran, weil sie doch mit ihrer eigenen Kraft rechnen. Sie realisieren nicht, dass sie schon über eine ungeheure Kraft verfügen, die sie nur noch in Anspruch nehmen müssen. Sie bitten um Kraft, aber sie ist doch schon in ihnen. Sie brauchen sie nur noch zu ergreifen.

Der Chinamissionar Hudson Taylor hat diese Glaubenswahrheit für sich einmal überwältigend erfahren. Er schrieb darüber:

Alles hängt an unserer Verbindung zu Jesus. Wenn er in uns ist, haben wir alles, seinen ganzen Reichtum. Wenn ich zur Bank gehe und von meinem Guthaben 50 Dollar fordere, kann der Beamte sie meiner ausgestreckten Hand nicht verweigern mit der Begründung, das Geld gehöre Mr. Taylor. Was Taylor gehört, darf meine Hand nehmen. Sie ist ein Glied meines Körpers. Ebenso bin ich ein Glied Christi und darf aus seiner Fülle nehmen, was ich brauche. Ich weiß das schon lange aus der Bibel, doch erst jetzt glaube ich es als lebendige Wirklichkeit.“

Mit der Kraft Jesu rechnen, das braucht wohl ein ganzes Leben, um das einzuüben, immer wieder daran denken und dafür zu danken, dass Christus in mir ist, seine Liebe und seine Kraft.

Eine alte Frau hat dies praktiziert. Sie lebte auf der Schwäbischen Alb und erhielt immer wieder Gäste. Ihr Sohn, ein bekannter Pfarrer, wunderte sich, wie sie dies bewältigte. Darum fragte er sie einmal: „Mama, wie machst du das?“ Da hat sie lachend geantwortet: „Mein lieber Sohn, ich bin jetzt bereits soweit, dass ich ohne meinen Heiland keinen Pfannkuchen mehr backen kann.“ Sie wollte damit ausdrücken: Ich kann gar nicht anders, als in meinem Alltag immer wieder Jesus mit einzubeziehen.

So können wir es doch auch machen: Wenn ich ein Mittagessen zubereite, zu beten: „Danke, dass du jetzt da bist, dass ich nicht alleine bin, dass du mir beistehst und hilfst.“ Ebenso, wenn ich mit dem Auto auf die Arbeit fahre, wenn ich im Büro sitze, im Klassenzimmer oder im Hörsaal oder in einer Zoom-Konferenz. Und erst recht, wenn wir mit unseren Mitmenschen zu tun haben, vor allem mit denen, die wir nicht so recht leiden können, ja, die uns auf die Nerven gehen.“ Was können wir dann anders tun, als zu beten: „Herr, lass mich diese Menschen liebhaben.“?

Was ich damit sagen will: Beim Glauben im Alltag geht es nicht um mein eigenes Bemühen, um meine Anstrengungen oder guten Vorsätze. Sondern es geht um eine neue Blickrichtung: Weg von der Situation, die mich belastet, die mir zu schaffen macht, hin auf Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen! Als Jesus sterbend rief: „Es ist vollbracht!“ da hat er den Tod und die Sünde besiegt. Und dass dieser Sieg in meinem Leben wirksam wird, darum geht es in einem lebendigen Christsein. Und es geschieht, wenn wir immer wieder für die vollbrachte Erlösung danken. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Dies gilt auch für ein anderes Gebiet, das Paulus hier anspricht: das der Vergebung. „Ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat wider den anderen.“, schreibt hier der Apostel. Ein wichtiges Thema.

Da hat zum Beispiel ein Junge seine Mutter durch Grobheiten tief verletzt. Der Junge ist längst weitergegangen, aber die Mutter trägt es dem Jungen nach. Und sie trägt schwer daran.

Eine Frau hat ihren Mann schwer gekränkt. Sie hat das gar nicht so empfunden und lebt fröhlich weiter. Aber der Mann trägt es seiner Frau nach und ist damit sehr belastet.

Ein Arbeitskollege ist von einem anderen hintergangen worden und in seiner Ehre verletzt. Der Kollege ist schon in einer anderen Abteilung. Aber der andere trägt es ihm noch nach und macht sich dadurch sein Leben schwer.

In einer Gemeinde hat es hässliches Gerede übereinander und gegeneinander gegeben. Man ist zerstritten. Man trägt nach, jahrelang.

Wer einem anderen etwas nachträgt, hat schwer zu schleppen. Man schadet sich selbst durch so ein Verhalten. Der andere hat sein Fehlverhalten vielleicht schon längst vergessen. Aber ich verletze mich immer noch durch die alte Kränkung.

Besser ist es, die Kränkungen und Verletzungen bei Gott ablegen und sie ihm bewusst übergeben. Verdrängen schadet, Nachtragen aber auch. Ablegen, Gott übergeben und dann auch vergeben befreit. „Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr“, schreibt hier Paulus. Wie können wir unserem Mitmenschen das verweigern, was Gott uns schenkt: die Vergebung? Denken wir immer wieder daran, wie lieb uns Jesus hat, trotz unserer Schuld, trotz unseres Versagens. Dann können wir auch vergeben, vielleicht nicht sofort, aber doch im Laufe der Zeit.

Letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass wir viel Gemeinschaft mit Jesus pflegen, ständig und immer wieder mit ihm in Verbindung stehen, unser Leben mit Ihm leben. Wenn Er bei uns ist, dann bekommt alles eine andere Bedeutung. Dann sind Menschen, die es uns schwermachen, nicht einfach Blödmänner, sondern dann sollen sie uns dazu dienen, die Gesinnung Jesu zu bekommen, seinen Geist der Liebe und der Demut und der Freundlichkeit. Oder belastende Situationen, in denen wir uns Sorgen machen, können wir dann als Schulen des Vertrauens ansehen, wo wir lernen sollen, kindlich zu glauben, auch wenn wir noch gar nichts von Hilfe und Rettung sehen.

Statt den Sorgen Raum zu geben, sollen und dürfen wir dem Liedvers glauben: „Wenn die Stunden sich gefunden bricht die Hilf’ mit Macht herein. Um dein Grämen zu beschämen wird es unversehens sein.“ Und weiterbeten, wenn unser Gebet nicht gleich erhört wird. Weiterglauben! Und anfangen zu Loben und zu Danken! Das Danken bringt uns Jesus und seinen Kräften näher.

Tu das. Danke deinem Herrn, wie dir auch zumute sein mag. Es wird dir guttun.

Amen