Bayreuth, den 26.12.2022 - 1. Johannes 3,1-6

Liebe Gemeinde! 

Weihnachten, so sagen manche, sei nur etwas für Kinder. Die freuen sich noch so richtig auf dieses Fest, natürlich wegen der Geschenke, aber auch über den Lichterglanz des Weihnachtsbaumes und über die ganzen süßen Leckereien, die es an Weihnachten gibt.

Weihnachten ist nur etwas für Kinder. Dieser Satz ist vollkommen – richtig! Und was ist dann mit uns Erwachsenen? Auch wir können Kinder werden, Kinder Gottes. Davon redet hier ja auch Johannes in unserem Predigtabschnitt. „Wir sollen Kinder Gottes heißen“, lesen wir hier. Das ist eine Aussage, die wir vielleicht schon oft gehört und uns an sie gewöhnt haben. Aber wenn wir recht darüber nachdenken, atemberaubend. Sie klingt fast unglaublich, aber sie ist wahr.

Nun hat die Geburt eines jeden Kindes eine Vorgeschichte. Da müssen sich erst zwei Menschen finden und lieb gewinnen und ihrer Liebe Ausdruck verleihen. Ein Kind wird empfangen und wächst im Mutterleib heran. Die werdenden Eltern machen sich eifrig daran, sich auf das Kommen des neuen Erdenbürgers vorzubereiten. Windelpakete, Babykleidung, ein Bettchen wird gekauft. Schließlich soll das Kind sich von Anfang an in seiner neuen Umgebung wohl und geborgen fühlen.

Auch unsere Gotteskindschaft hat eine Vorgeschichte, eine sehr lange Vorgeschichte sogar. Und sie hat ebenfalls mit Liebe zu tun, mit der Liebe Gottes zu uns, zu einem jeden Menschen. Diese Vorgeschichte begann in der Ewigkeit.

Ich muss sehr menschlich davon reden. Anders geht es nicht: Gott Vater sieht, wie seine geliebten Menschenkinder sich gar nicht wie seine Kinder benehmen, wie sie sich von ihm und seiner Liebe entfernt haben. Ihr Leben besteht oft nur aus Raffen und Habenwollen. Der Mitmensch bleibt links liegen. Und vor allen Dingen steht Gott, dem sie doch letztlich ihr Dasein verdanken, nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens. Sie suchen ihr Glück ohne Gott und sind dabei doch so oft unglücklich.

Dies zu sehen, zerrreißt Gott das Herz. Er kann es nicht mit ansehen und beschließt zu handeln. Die Menschen sollen wieder seine geliebten Kinder werden. Deshalb schickt er seinen Sohn auf die Erde. Das heißt Gott wird Mensch, zunächst ein Baby, das in eine Futterkrippe gelegt wird. Gott verzichtet auf seine göttlichen Attribute und wird ein Mensch wie du und ich, verletzlich, Hunger, Anfeindungen und Schmerzen ausgesetzt. Schließlich stirbt er wie ein Verbrecher am Kreuz. Warum nur? Aus Liebe zu uns, damit wir wieder Kinder Gottes werden können.

Vielleicht kennen Sie den Film „Stadt der Engel“. Da verliebt sich ein Schutzengel in eine junge Frau. Er beschließt, auf seine himmlischen Privilegien zu verzichten. Für sie gibt er seine unsterbliche Existenz auf. Für sie wird er ein sterblicher Mensch. Für sie nimmt er in Kauf, dass ihn eine Gang zusammenschlägt. Aber trotzdem bereut er nicht, seine himmlische Existenz aufgegeben zu haben. Ein etwas sentimentales Filmmärchen, sicher.

Aber hat sich Jesus nicht ganz ähnlich verhalten? Er hat seine himmlische Existenz aufgegeben und wurde ein verletzlicher, sterblicher Mensch, aus Liebe zu uns. Er hat geheilt, getröstet, Sünden vergeben. Um ihn herum wurde Leben wieder heil, durch seine heilenden Kräfte, die von ihm ausgingen. Er opferte sogar sein Leben, nahm am Kreuz die Strafe für unsere Schuld auf sich, damit uns vergeben werden kann. Durch seinen Tod am Kreuz hat er jede einzelne unserer Sünden bezahlt. Auch ihre. Als die Römer Jesus an das Kreuz nagelten, streckten sie seine Arme, so weit es ging. Mit diesen weit geöffneten Armen erklärte Jesus im Grunde: „Ich liebe dich! Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut! Ich sterbe lieber, als ohne dich zu leben!“ Wenn Sie das nächste Mal ein Bild oder ein Kruzifix sehen, die Jesus mit weit geöffneten Armen am Kreuz zeigen, dann denken Sie doch daran, dass er damit sagt: „Ich liebe dich so sehr!“

Und das Phantastischste: Das ist nicht bloß eine ausgedachte Geschichte von irgendeinem Drehbuchautor. Das ist keine alte Märchengeschichte. Was Jesus ist und tut, sind keine bloßen Behauptungen. Sondern das ist alles erfahrbare Wirklichkeit. Wer Jesus vertraut, der macht mit ihm auch Erfahrungen, der merkt, dass Gott in sein Leben hineinkommt. Der erfährt seine Liebe und seine Vergebung. Wer immer nur kritischer Zuschauer ist, an dem geht das Leben vorbei. So ist es auch mit dem Glauben an Jesus. Nur wer ihm vertraut, der spürt etwas von dem Leben, das von ihm ausgeht. Der kann ein Kind Gottes werden.

Verdient haben wir dies nicht. Ganz im Gegenteil. Wir sind ganz und gar nicht seine braven und artigen Kinder, die sein Wohlwollen verdient hätten. Wir haben ihm im Gegenteil viel zu schaffen gemacht. Wir waren ungehorsame Kinder, die so leben wollten, wie wir es haben wollten. Wir waren eigensinnig und dickköpfig, lieblos, zornig, gleichgültig und ablehnend unseren Mitmenschen gegenüber, wir waren gierig, geizig und neidisch. So und nicht anders, eher noch viel schlimmer als wir es erkannt haben, sind wir von Natur aus, eher Feinde als Freunde Gottes.

Gott wurde ein Mensch, um unartige Kinder zu Kindern Gottes zu machen. Ist das nicht zum Staunen? Nicht weil ich besonders gläubig und fromm bin, sondern weil Jesus mich bis zu seinem Tod geliebt hat, darf ich Gottes geliebtes Kind sein. Niemand ist ausgeschlossen. Durch Jesus sind wir als Kinder von Gott angenommen. Wir müssen jetzt nicht mehr Kinder des Teufels, der Sünde und des Todes sein. Wer dem Sohn Gottes glaubt, wer Jesus gehört, der ist ein Kind Gottes.

Wir sind in den Augen Gottes keine Nullen, die nichts gelten und auf die man nur achtet, solange sie Leistung bringen. Es ist für ihn nicht entscheidend, ob ich ein gut verdienender Manager oder Hartz IV Empfänger, gesund oder krank bin, jung oder alt, leistungsfähig oder schwach. Es zählt für ihn auch nicht, ob ich ein hoch anständiges Leben geführt habe, oder ob ich es durch eigenes Verschulden oder schuldhafte Verstrickungen verpfuscht habe. Es zählt für ihn nur noch die Gotteskindschaft, die er mir schenkt.

Gottes Kind sein, weil Jesus ein Menschenkind wurde, das bedeutet: Wir Menschen sind wert geachtet vor Gott. Wir, die wir uns heute oft nur als nichtige Nummern vorkommen im Räderwerk unserer automatisierten Welt. Wir, die wir beliebig und auswechselbar erscheinen, wenn es um das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen geht. Was ist der Mensch, wenn er nicht mehr von der Arbeitswelt gebrauch wird, wenn er alt, schwach und krank geworden ist, wenn ihn keiner beachtet und er einsam und verlassen ist? Vor Gott sind wir dann immer noch unendlich viel wert. Gottes Liebe schenkt uns eine eigene Würde. Wir haben eine fremde Würde, von Gott, unserem Vater her. Ist das nicht zum Staunen?

Ein Missionarshelfer Ziegenbalgs kannte dieses Staunen darüber, dass Gott uns seine Kinder nennt. Ziegenbalg war der erste evangelische Missionar in Indien. Er legte in dem damals dänischen Trankebar den Grund zu einer Gemeinde und begann durch seine Bibelübersetzung in die Landessprache ein großes Werk. Er kam an die Stelle: „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen!“ Da weigerte sich sein eingeborener Gehilfe, dem er diktierte, dies zu schreiben, denn er meinte, das sei etwas viel zu Großes für die Hindus. Er schlug vor, dafür zu setzen: „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir zu seinen Füßen sitzen und den Saum seines Kleides küssen dürfen.“ Doch Ziegenbalg belehrte ihn, dass die Kindschaft Gottes allen Menschen angeboten werde.

Gott hat für uns eine wundersame Karriere vorbereitet, von einem Menschen, der ohne Gott, ohne seinen Schutz und Segen lebt, zum Kind Gottes. Wir dürfen wieder Kind im Haus des Vaters sein.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist eine Einladung an uns. Wir kennen ja diese Geschichte: Der verlotterte, kaputte Sohn, der all sein Erbe durchgebracht hat, darf heimkommen. Der Vater nimmt ihn wieder auf, feiert sogar ein Freudenfest.

Weihnachten ist auch so ein Freudenfest. Denn auch wir dürfen ja zu Gott heimkehren. Und diese Heimkehr bewirkt auch eine Veränderung. Kinder Gottes spiegeln irgendwie das Wesen ihres himmlischen Vaters wider.

Begegnungen bewirken Veränderungen. Man merkt es jungen Menschen an, wenn sie verliebt sind. Da bleiben sie nicht, wie sie bisher waren. Da ändert sich manches in ihrem Leben, vom äußeren Erscheinungsbild bis zum Verhalten und zu den Lebensgewohnheiten. Was tut man nicht alles, um sich der Liebe, die man erfährt, würdig zu erweisen und sie zu erwidern!

Begegnungen bewirken Veränderungen. Das gilt nun auch für die Begegnung mit dem Kind in der Krippe. Wer ihm und seiner Liebe begegnet, wem aufgeht, was es bedeutet, zu Gott zu gehören und in seiner Nähe zu leben, der wird nicht bleiben wollen und bleiben können, wie er oder sie immer waren. Nein, das Leben wird sich ändern.

Er wird das lieben, was Jesus ihm zu sagen hat, in der Bibel und im Gottesdienst, er wird seine Gebote lieben, auch die lieben, die Jesus auch liebt. Im Verhalten zu Gott und seinen Mitmenschen wird etwas von dem zu sehen sein, was Jesus an neuer Gesinnung in diese Welt hineingebracht hat. Er wird auf Versöhnung setzen statt auf Streit, auf Hilfe und Entgegenkommen statt auf Abweisung, auf menschliche Wärme statt auf Kälte. Es müssen nicht spektakuläre Dinge sein, die bei einem solchen Menschen sich verändern. Es ist oft sehr unscheinbar, was da in einem Menschen die Liebe Jesu bewirkt.

Manches muss sich erst entwickeln. Das ist ja bei Kindern nicht anders. Manche Talente und Fähigkeiten kann man schnell entdecken. Da sehen die Eltern: Der hat ein Talent zum Malen. Oder die ist wirklich musikalisch. Der eine kann gut mit Menschen umgehen. Die andere kann gut und geduldig zuhören.

Vielleicht sieht man dieses angelegte Göttliche auf den ersten Blick auch gar nicht. Manches muss erst geweckt und langsam entwickelt werden. „Jeden Morgen“, so erinnerte sich Martin Luther einmal an seine Schulzeit in Eisenach, „zog der Rektor vor uns seine Mütze, bevor er seinen Katheder bestieg, weil Gott manchen von uns zum Bürgermeister, Richter, Doktor, Kanzler oder Regenten bestimmt haben könnte.“ Kinder entwickeln sich erst noch. Und aus manchem Lausbub ist wie der Michel von Lönneberga aus den Geschichten von Astrid Lindgren ein Bürgermeister geworden.

Nicht anders ist es auch bei den Kindern Gottes. Manches, was Gott in sie hineingelegt hat, muss sich erst entwickeln. Das kann dauern. Johannes schreibt hier ganz nüchtern: „Es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden.“ Da ist so Manches im Leben von Kindern Gottes, das noch nicht so ist, wie es sein sollte. Diese Veränderung kann dauern, oft jahrelang oder gar jahrzehntelang.

Es ist die Anfechtung eines jeden ehrlichen Christen, dass trotz der Liebe Gottes, die er erfahren hat, manches bei ihm weiterläuft, als wäre nichts geschehen. Dass er von dem Weihnachtswunder in den Gottesdiensten hört, zum Abendmahl geht, sich über die zugesagte Liebe freut, und dann doch wieder so lieblos sein kann. Deshalb sagt Johannes hier: Kinder Gottes sind auf einem Weg, aber noch nicht am Ziel. Christen sind immer im Werden. Ich kann nicht vom halbfertigen Zustand meines Christseins auf das Ganze schließen.

Ein halbfertiges Kunstwerk sieht oft komisch oder elend aus. Man muss mit dem Urteil warten, bis es vollendet ist. Ein halbfertiges Gebäude ist auch noch kein Schmuckstück. Wird es aber noch. Ein ärztlicher Eingriff verursacht zunächst einmal mehr Schmerzen und Unannehmlichkeiten, bringt oft Blut und Tränen mit sich, aber, wenn er dann abgeschlossen ist, bedeutet er die Heilung.

Viele Dinge, Werke oder Arbeiten wirken halbfertig eher abstoßend und chaotisch. Sie in diesem Zustand zu beurteilen wäre dumm. Nach der Vollendung der Dinge, Werke und Arbeiten wird unser Urteil ganz anders ausfallen. Sollte das für unser Christsein nicht auch gelten? Ich kann es nicht im halbfertigen Zustand beurteilen. Gott wird es schon noch vollenden. Wer ein Kind Gottes ist, der darf und soll es Jesus zutrauen, dass er sein Werk in ihm noch zu Ende bringt. Paulus schreibt die für mich schon oft tröstlichen Worte: „Der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu.“ Er wird es auch bei dir und mir tun.

Amen