Bayreuth, den 01.01.2023 - 1. Mose 16, 13

“Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Liebe Gemeinde!

Vielleicht steht der eine oder andere unter uns etwas ratlos vor dieser Jahreslosung. „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ „Ja und?“, könnte man sagen. Das ist doch selbstverständlich. Gott weiß alles, Gott sieht alles, natürlich auch mich. Das kann für mein Leben gar nichts bedeuten. Ein Gott, der sieht, muss ja nicht unbedingt etwas tun. Er könnte ja einfach nur mehr oder weniger interessiert mein Leben, mein Tun und Lassen, meine Freuden und mein Leid, ansehen, einfach nur zugucken – und nichts tun. Manche Menschen haben ja so ein Gottesbild. Es gibt schon Gott, meinen sie, aber er greift nicht in ein Leben ein.

Dann kann einem angesichts dieser Tatsache unbehaglich werden. „Gott sieht mich.“ Das könnte man ja so verstehen: Gott beobachtet mich und merkt sich genau unsere Fehler, um sie mir irgendwann einmal, spätestens beim Jüngsten Gericht, vorweisen zu können. Gott ist der große Kontrolleur, dem nichts entgeht. Ist das mit unserer Jahreslosung gemeint?

Nein. Um diesen Satz „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ recht zu verstehen, muss man den Zusammenhang kennen, in dem er gesprochen worden ist.

Diesen Satz sagte Hagar in einer notvollen Situation ihres Lebens. Hagar war eine Magd von Sarah, der Frau Abrahams. Gott hatte zwar Abraham versprochen, dass er einen Sohn bekommen sollte. Aber die Ehe blieb kinderlos. Sarah war inzwischen in einem Alter, in dem sie eigentlich gar keine Kinder bekommen konnte. Wie sollte nun der versprochene Erbe geboren werden? Das schien unmöglich. Die biologische Uhr von Sarah war abgelaufen.

Da hatte sie eine verhängnisvolle Idee. Ihr Mann Abraham sollte mit ihrer Magd Hagar einen Sohn zeugen. Das galt damals nicht als anstößig und nicht als Ehebruch. Wenn die Magd ein Kind ihres Herren auf dem Schoss ihrer Herrin zur Welt brachte, dann galt es als ein Nachkomme ihrer Chefin. So sah das antike Modell der Leihmutterschaft aus.

Abraham ließ sich auf den Vorschlag seiner Frau ein. Und er schien zu funktionieren. Hagar wurde prompt schwanger. Aber damit fingen die Probleme erst an. Hagar ließ sich deutlich anmerken, dass sie sich ihrer Herrin überlegen fühlte. Sie war jung und fruchtbar und ihre Chefin alt und verbraucht. Hagar muss wohl immer wieder etwas in dieser Richtung gesagt haben. Bis es Sarah reichte. Sie beklagte sich bitter bei ihrem Mann über das freche Verhalten ihrer Magd. Abraham gab ihr freie Hand, wie sie mit Hagar umgehen sollte. Das ließ sich Sarah nicht zweimal sagen. Diese Magd werde ich schon wieder kleinkriegen, nahm sie sich vor. Sarah zwingt sie, noch unangenehmere Arbeiten zu verrichten als vorher. Sie ist streng zu ihr, vermutlich zu streng. Der Bauch Hagars wächst und wächst. Und sie hält das Verhalten Sarahs nicht mehr aus. Hagar ist ganz allein auf sich gestellt. Niemand steht ihr bei, auch nicht der Vater ihres Kindes. Da beschließt sie zu fliehen, vermutlich Hals über Kopf, ohne viel nachzudenken. Hauptsache weg. Hauptsache niemand sieht sie und findet sie. Sie ließ sich das Verhalten ihrer Chefin nicht mehr gefallen und haute ab.

Doch Gott ging ihr nach. Hagar floh in die Wüste. Dort begegnete sie einem Engel. Der machte ihr klar, dass sie wieder zurück zu Sarah gehen und sich deren schlechte Behandlung gefallen lassen solle. Hagar, so der Engel, soll einen Sohn zur Welt bringen und ihn Ismael nennen. Dieser sei zwar nicht der Sohn der Verheißung für Abraham. Aber auch Ismael soll der Stammvater eines großen Volkes werden. Der Koran behauptet, das seien die Araber. Hagar war von der sichtbaren Fürsorge Gottes überwältigt und sagte nun diesen Satz: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Der mich also in meinem Elend nicht allein lässt, für mich sorgt und für mich einen Plan hat. Hagar schöpft neuen Mut. Sie kann glauben: Gott macht alles gut. Weil Gott es ihr versprochen hat. Und sie kehrt tatsächlich wieder zurück. Dass es später doch noch wieder zu einer Eskalation zwischen dem Sohn Hagars Ismael und dem inzwischen doch noch geborenen Sohn Sarahs und Abrahams kommt, ist eine andere Geschichte. Die könnt ihr in 1. Mose 20 nachlesen.

Hagar macht also die wunderbare Erfahrung: Gott sieht mich. Er sieht mein Elend an. Genau das Gleiche dürfen auch wir für uns glauben und erfahren: Gott sieht mich. Nicht nur für dieses Jahr, sondern für unser ganzes Leben dürfen wir es immer wieder als ein geistliches Motto nehmen: Du siehst mich. Du gibst auf mich Acht. Du bist ein fürsorglicher Gott.

Dies gilt auch, wenn wir manchen Fehler gemacht haben, wenn wir schmerzlich erkannt haben, dass wir versagt haben. Auch dann lässt er uns nicht alleine unsere Wege gehen, sondern schaut nach uns. So hat es ja auch Hagar erlebt. Sie war sehr von sich eingenommen und verhielt sich ihrer Chefin gegenüber ganz schön arrogant. Wir wissen ja, was der Apostel Petrus zu dem Thema „Hochmut“ gesagt hat: „Gott widersteht den Hochmütigen.“ (1. Petrus 5,5). Hochmütiges Verhalten ist also keine Kleinigkeit, sondern eine große Sünde. Jesus erzählte einmal von dem Pharisäer im Tempel. Er war zweifellos ein frommer Mensch. Aber er war hochmütig und stellte sich im Gebet über den Zolleinnehmer, der zur gleichen Zeit im Tempel betete. Deshalb sagte Jesus das vernichtende Urteil: Dieser war nicht recht vor Gott.

Aber Hochmütige können sich schuldig geben. Auch sie können um Vergebung bitten und wie der Zolleinnehmer sprechen: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Dann ist Gott auch wieder gnädig. So wird es auch Hagar getan haben. So dürfen auch wir es tun.

Im Neuen Testament steht immer wieder etwas von dem Blick Jesu. Es ist immer ein Blick des Erbarmens. Jesus sieht die Not des Menschen und will helfen. Vor 2000 Jahren stand er vor einer Menschenmenge. Wen wird er da alles gesehen haben! Blinde, Aussätzige, Bettler, Prostituierte, Ungebildete, die weder lesen noch schreiben konnten, abgearbeitete Bauern, Menschen, die in Aberglauben verstrickt waren, Ehebrecher, Betrüger. Aber er verurteilt und verachtet sie nicht. Er hat vielmehr großes Mitleid mit ihnen. Denn er sieht sie mit anderen Augen, als wir solche Menschen vielleicht ansehen würden. Er sah, dass sie hilflos und verängstigt waren, ohne Ziel und ohne Hoffnung. Jesus sah, so heißt es da: Sie waren wie Schafe ohne ihren Hirten.

Und heute würde er ähnliches sehen: Viele Menschen, denen es zwar äußerlich viel, viel besser geht als denen vor 2000 Jahren, die gebildeter sind, die weniger hart arbeiten müssen, die körperlich gesünder sind. Aber die trotzdem krank sind - in ihrer Seele. Denen es an Trost, Zuversicht, Glaube, Liebe, Hoffnung fehlt. Die innere Orientierungslosigkeit ist die große Not auch in unserem Land.

Jesus schaut nicht von oben herab auf diese verirrte Masse von Menschen, damals wie heute nicht. Er richtet und verdammt nicht, sondern er schaut sie mit Liebe an. Und er empfindet tiefes Mitleid. Martin Luther dichtete: "Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen..." Er erbarmt sich über jeden, der im Dreck und Elend seines Lebens zu versinken droht. Er verachtet auch uns nicht im Dreck und Elend unseres Lebens. Er sieht uns und vergibt uns, wenn wir nur diesem liebevollem Blick Jesu nicht ausweichen.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Das heißt auch: Er sieht weiter als wir. Er hat den Überblick. Wir sehen oft nur die schwierige Lage, in der wir drinstecken. Er sieht schon die Hilfe. Wir sehen keinen Ausweg. Er hat schon den Weg im Blick, den wir gehen können. Wir sehen nur: „Unmöglich, dass ich aus dieser Situation unbeschadet rauskomme.“ Gott sieht, dass alle Dinge möglich sind, dem, der da glaubt. Gott hat den Überblick und den Weitblick. So durfte es Hagar erleben. Wo sie nur eine schwierige, ja aussichtslose Lage in der Wüste sah, war die Hilfe schon unterwegs.

So habe ich es auch in meinem Leben immer wieder erfahren dürfen. In kleinen und in großen Dingen habe ich oft staunend entdeckt: Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Ich denke da zum Beispiel an ein Erlebnis als Student. An meinem Studienort in Erlangen fuhr ich mit meinem Auto auf einer zweispurigen Straße. Ich wechselte die Fahrspur. Da überholte mich von rechts ein Auto und schrammte bei dem Überholvorgang an der Beifahrerseite. Der Fahrer gab Gas und fuhr auf und davon. Also Fahrerflucht. Es ging alles so schnell, dass weder mein Freund, der bei mir im Auto saß noch ich, den Fahrzeugtyp, geschweige denn das Kennzeichen erkennen konnten. Ich lenkte mein Fahrzeug an die Straßenseite und besah den Schaden. Die Beifahrerseite war eingedellt und musste natürlich repariert werden. In dem Moment kam ein Mann auf mich zu. Der sah nicht sehr vertrauenserweckend aus. Aber er sagte zwei wundervolle Sätze: „Ich habe gesehen, wie Sie das Auto überholt hat. Und ich habe mir die Autonummer gemerkt.“ So konnte der flüchtige Fahrer festgestellt werden und musste natürlich den Schaden bezahlen. Als ich über die unerwartete und wunderbare Hilfe nachdachte, fiel mir das Lied ein: „Liebevoll wacht Jesus über dir, jeden Schritt, jeden Tritt, den du gehst.“ Und jeden Meter, den du fährst, natürlich auch. So habe ich auch in dieser Situation erfahren: Du bist ein Gott der mich sieht – und hilft!

Du bist ein Gott, der mich sieht, bedeutet auch noch drittens: Du übersiehst mich nicht. Menschen mögen uns übersehen, weil wir für sie keine Bedeutung haben, weil sie irgendetwas an uns entdeckt haben, was ihnen nicht gefällt oder, weil wir zu unscheinbar in unserem Auftreten sind. Das tut weh. Denn wir brauchen das, das uns jemand beachtet, dass er uns wahrnimmt, uns freundlich anlächelt oder ein paar nette Worte mit uns wechselt. Aber oft geschieht das eben nicht.

Doch Gott übersieht uns nicht. Bei ihm sind wir wertvoll, einmalig. Schließlich hat er uns selbst gemacht. So durfte es auch Hagar erleben. Sie war allein in der Wüste. Keiner kümmerte sich um sie und das Leben, das in ihrem Bauch heranwuchs. Aber Gott kümmerte sich um sie. Er übersah sie nicht und half ihr.

Vielleicht kennt ihr die Geschichte von Punchinello, die einmal Max Lucado in einem Kinderbuch erzählt. Er gehörte zu dem Volk der Wemmicks. Wer etwas Großartiges, Besonderes leistete, bekam Sterne angeheftet. Punchinello erhielt keinen einzigen. Stattdessen bekam er für jedes Fehlverhalten und jedes Versagen lauter graue Punkte angeheftet. Punchinello war mit grauen Punkten geradezu übersät. Keiner wollte mit ihm etwas zu tun haben.

In der Geschichte von den Wemmicks trifft Punchinello nun das Mädchen Lucia. Der ist egal, was die anderen von ihr denken. Sie trug weder Sterne noch Punkte. Bei ihr hafteten sie einfach nicht. "So möchte ich auch sein", denkt Punchinello. Und er fragt sie: Wie machst du denn das? "Es ist ganz einfach", gab sie zur Antwort. "ich besuche Eli jeden Tag." Und sie gibt dem Punchinello einen entscheidenden Tipp: "Mach's doch auch so. Geh zu Eli, dem alten Holzpuppenschnitzer."

Punchinello tut, was Lucia ihm rät. Er geht zu Eli. Der kennt den Punchinello schon. Denn er hat ihn ja gemacht. Ganz Überraschendes erfährt Punchinello von seinem Schöpfer. "Du bist einmalig!" sagt Eli zu ihm. Er - etwas Besonderes? Das hat Punchinello noch niemand gesagt. Ganz freundlich redet Eli mit ihm, trotz seiner vielen grauen Punkte. "Jeden Tag habe ich auf dich gewartet, weil du mir wichtig bist." sagt Eli zu Punchinello.

Eli ist eigentlich ein hebräisches Wort und heißt: Mein Gott. So wie der Holzschnitzer auf die von ihm geschnitzten Puppen so wartet Gott auf uns. Es ist ja der Gott, der uns gemacht hat und dem wir wichtig sind. Er wartet auf uns, dass wir zu ihm kommen, ob mit oder ohne Sterne, ob mit oder ohne graue Punkte. Er wartet auf uns. Denn wir sind ihm wichtig. Er hat uns ja geschaffen.

Wartend sieht er uns. Jeden Tag im neuen Jahr. Er freut sich, wenn wir im Gebet zu ihm kommen, ihm unseren Kummer sagen und unsere Freude und Dankbarkeit über seine Liebe ausdrücken. Je öfter wir dies tun, desto mehr freut er sich und desto mehr tut dies uns auch selber gut. Das Bewusstsein der Liebe Gottes kann unser Leben verändern, kann uns alle falschen Minderwertigkeitsgefühle nehmen, kann uns zeigen, dass wir in den Augen Gottes wertvolle Geschöpfe sind, kann uns den Platz zeigen, an dem unser Schöpfer uns haben will, kann uns Aufgaben zuweisen, die für uns angemessen sind. Ja, wir sind bei Gott angesehen und haben nun auch einen Auftrag: Achte Du auf die, die keiner beachtet. Sieh auf die, die übersehen werden. Du bist von Gott gesehen und angesehen. Sieh nun auch deinen Mitmenschen mit seinen liebenden Augen an und lass ihn das spüren: Es gibt einen Gott, der dich sieht und der dich liebt.

Amen