Bayreuth, den 05.02.2023 - Matthäus 9, 9-13

Liebe Gemeinde!

Weltmeisterschaft im Motorbootrennen auf dem Baldeneysee in Essen. Eine vierköpfige Familie schaut vom Rand aus zu. Der kleine Sohn Micha ist gerade vier Jahre jung. Die Familie ist von der Raserei auf dem Wasser gepackt. Die Blicke gelten den Besten, den Schnellsten, den voraussichtlichen Siegern. Michas Augen aber sehen etwas ganz Anderes. Ein Boot hat schlappgemacht. Es kam aus eigener Kraft nicht weiter. Es treibt hilflos im Wasser. Das beschäftigt den Jungen. Und immer wieder sagt er: „Wie kommt das Boot an Land? Da muss doch einer hin und das Boot rausholen!“

Genauso wie die Augen Michas sind die Augen Jesu. Sie suchen die, die Hilfe brauchen und sind auf Rettung aus. Wir haben oft nur einen bewundernden Blick für die, die im Leben vorne dran sind: die Bosse in den großen Wirtschaftsunternehmen, die großen Stars im Sport und im Showbusiness. Aber Jesus sieht die, die auf der Strecke geblieben sind, die Schiffbrüchigen, die hilflos dahintreiben. Ihnen will und kann er helfen.

Es ist seine Aufgabe, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten. Genauso wie ein Arzt ist er für die Kranken und nicht für die Gesunden zuständig. So sagt er es zu den Pharisäern. Die sehen, wie Jesus mit dem Gauner Matthäus zusammen isst. Und sie regen sich darüber auf: „Mit so einem Typen wie diesem Zöllner gibt er sich ab!“ Ja, gerade mit solchen.

Matthäus war auch so einer, der auf der Strecke geblieben war. Auch wenn es nach außen hin nicht so aussah. Er gehörte ja zu den Cleveren im Land, die ganz schön in ihre eigene Tasche zu wirtschaften verstanden. Von den Römern hatte er sich eine Zollstation gepachtet. Das heißt, er streckte eine gewisse Summe Geldes vor, die er im Laufe der Zeit wieder hereinholen musste. Dies verführte natürlich zu Habgier und Betrügereien beim Zolleintreiben. Kein Wunder, dass Zöllner zur Zeit Jesu unbeliebte Zeitgenossen waren. Sie wurden als Gauner und Betrüger verschrien und waren dazu noch Leute, die mit den verhassten Römern zusammenarbeiten. Finanziell hatten sie ausgesorgt. Aber sie hatten das gleiche Ansehen wie heute ein Mafiaboss, der Schutzgelder von Restaurants erpresst, wie korrupte Politiker oder betrügerische Unternehmer.

Mit solchen Menschen umgibt sich Jesus? Ja, macht er. Er kennt kein Schubladendenken. Er denkt nicht: Der hat den Beruf. Und der hat jene üble Vorgeschichte. Also will ich mit ihm nichts zu tun haben. Jesus sieht tiefer. Er sieht hinter die Fassade, die oftmals täuscht. Auch bei Matthäus sieht er nicht den raffgierigen Zöllner, sondern einen Sünder. Er sieht einen Menschen, der sich selbst und Gott verloren hat und noch dazu die Achtung seiner Mitmenschen. Er sieht jemand, der lieber heute als morgen aus seinem Zustand herauskommen möchte.

Ob ihm sein ganzes Verlorensein, sein ganzes Unglücklichsein so bewusst war, steht hier nicht da. Auf jeden Fall wurde ihm ganz klar, was ihm fehlte, als Jesus ihn ansprach. Dies war die Liebe und Gemeinschaft mit dem Mann aus Nazareth. Der allein konnte ihm helfen. Ihn allein brauchte er für ein erfülltes Leben. Er allein! Das wusste Matthäus in dem Moment, als Jesus ihn ansprach und zu ihm sagte. „Folge mir nach!“

Solche Menschen wie Matthäus sucht Jesus heute noch: Sünder, auch wenn viele moderne Menschen mit dem Begriff nichts mehr anfangen können.

Ich denke an eine Szene aus dem Film „Schwarze Steine“, den wir oft auf Konfirmandenfreizeiten gezeigt haben. Ein Christ versucht, seinem Freund und Arbeitskollegen zu erklären, dass Jesus in diese Welt gekommen ist, um Sünden zu vergeben. Der Freund wendet abfällig ein: „Sünde? Die gab’s doch nur im Mittelalter!“ Daraufhin erwidert der Christ: „So, du meinst, Sünde gab es nur im Mittelalter? Woher kommen denn dann Krieg und Streit, Missverständnisse zwischen Menschen, Hass und Unversöhnlichkeit, Ehebruch und Scheidung? Die Ursache dafür ist die Sünde!“

Sünde ist bis auf den heutigen Tag etwas Hochaktuelles. Sie ist in erster Linie nichts Moralisches, wie bestimmte böse Dinge, die ich getan habe. Dann könnte ich mich ja herausreden und sagen: „Ich habe ja nicht viel Schlimmes getan. Ich bin doch kein Sünder.“ Sünde ist in erster Linie eine Beziehungsstörung. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist zutiefst gestört, ja zerstört. Da herrscht Misstrauen statt Glauben, Angst vor Gott statt kindlichem Vertrauen, Gleichgültigkeit statt Liebe, Funkstille statt Gebet. Das ist der Grund, warum es oft im Verhältnis zu den Mitmenschen knirscht, warum so viel Böses in unserem Leben die Macht über uns hat. Die eigentliche Ursache ist das gestörte Gottesverhältnis, die Sünde.

Ich denke, die meisten unter uns haben dies erfahren, dass Jesus ihnen ihre Sünden vergeben hat. Irgendwann einmal in ihrem Leben haben sie den Zuspruch glauben können: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Vielleicht geschah dies bei einem seelsorgerlichen Gespräch, bei einem Abendmahl oder beim Lesen oder Hören von Gottes Wort. Es geschah das, was man „Bekehrung“ oder „Wiedergeburt“ nennt. Das Wie ist nicht entscheidend. Wie Gott einem Menschen mit seiner vergebenden Liebe begegnet, lässt sich nicht in ein Schema pressen. Hauptsache jemand sagt „Ja“ zu den beiden Tatsachen: Ja, ich bin ein Sünder. Und ja, Jesus liebt mich trotzdem, ja gerade deshalb.

Noch entscheidender ist es, wie es nach einer Bekehrung bzw. Wiedergeburt weitergeht. Ein Christ kann gar nicht genug aufpassen nach so einem Erlebnis, in Selbstgerechtigkeit und Gesetzlichkeit zu erstarren. Martin Luther schrieb einmal an seinen Ordensbruder Spenlein: „Hüte dich, mein Bruder, jemals einer solchen Reinheit nachzutrachten, dass du nicht mehr als ein Sünder scheinen, ja gar kein Sünder mehr sein willst. Denn Christus wohnt nur in Sündern. Dazu ist er ja herabgekommen vom Himmel.“

Nur Sünder folgen wie Matthäus Jesus nach. Das heißt sie wollen ganz nah dran bleiben an Jesus, sehnen sich danach, immer wieder etwas von seiner Nähe, seiner Liebe, seinem Zuspruch, seiner Wegweisung etwas zu erfahren.

Manche Christen, meist gerade die, die meinen, es schon lange zu sein, klagen, dass ihr Christsein so abgestanden, so gewohnheitsmäßig, so routiniert, so lau geworden ist. Sie sollten sich prüfen, ob es nicht daran liegt, dass sie keine Sünder mehr sind.

Die Botschaft von der Vergebung der Sünden ist und bleibt das Zentrum der christlichen Verkündigung. Dort, wo sie verkündigt und ihr geglaubt wird, entsteht eine Atmosphäre der Freiheit und der Freude. Jesus mag kein niedergedrücktes Christsein, in dem einem nur Vorwürfe und Vorschriften gemacht werden. Sondern er will, dass wir uns über ihn und seine Liebe freuen.

Kein Wunder, dass Matthäus und Jesus miteinander aßen. Der Zöllner lud ihn zu sich nachhause ein. So steht es zwar nicht hier in seinem eigenen Evangelium, das er später schrieb. Aber bei Markus und Lukas lesen wir es so. Matthäus genoss sicher die Gemeinschaft mit Jesus. Mit diesem Geschehen fing die Nachfolge des ehemaligen Zöllners an. Er durfte sich zunächst einmal freuen, mit Jesus zusammen zu sein.

Sie blieben nicht allein. Von diesem Geschehen wurden Menschen angezogen, Zöllner und Sünder. Allerlei seltsame Gestalten umgaben Jesus. Schwere Jungs und leichte Mädchen werden wohl dabei gewesen sein, Gauner und Ganoven.

Einer hat den anderen eingeladen. Und sie haben Zeit mit Jesus und miteinander verbracht. In dieser Szene wird uns vor Augen geführt, wie Gemeinde entsteht und auch wächst. Ein entscheidender Faktor sind Beziehungen. Dies bestätigen alle wissenschaftlichen Studien. Menschen finden zum Glauben, weil Christen ihnen begegnen, die sich für sie interessieren und einladen.

Überlegen Sie einmal: Wie sind Sie zum Glauben und zu dieser Gemeinde gekommen? Wie fing das an? Da haben die Eltern Sie in den Gottesdienst mitgenommen. Da hat Sie die Freundin oder der Freund zu einer christlichen Veranstaltung eingeladen. Da hat Ihnen die Oma Jesusgeschichten vorgelesen. Da hat Sie ein Religionslehrer oder eine Kindergottesdienstmitarbeiterin vom christlichen Glauben begeistert. So oder ähnlich fing es an. Sie sind zu einer christlichen Versammlung gekommen und haben sich irgendwie wohlgefühlt. Das ist die Regel.

Häufig gehöre ich zunächst deshalb einer Gemeinde an, weil mir ihre Mitglieder irgendwie sympathisch sind oder ich komme in eine ihrer Versammlungen, und merke, da ist ja eine besondere Atmosphäre und dann komme ich zum Glauben. Englische Gemeindeforscher drücken diese Erfahrung so aus: "Belonging before believing."

Sicher, das Entscheidende, dass ein Mensch zum Glauben kommt, ist das Wort Gottes. Aber es entfaltet sicherlich dort eine stärkere Wirkung, wo viele glaubende Christen zusammen kommen und eine fröhlichen Atmosphäre da ist. Das Geheimnis dieser Fröhlichkeit ist die Freude an Jesus, an seiner Liebe, seiner Vergebung und seiner Freiheit, die er geben will.

Wo die Botschaft von der vergebenden Liebe Jesu verkündigt wird, da entsteht Gemeinde, wie klein oder wie groß sie sein mag. Es ist eine Gemeinschaft, die sich klar von den Maßstäben einer entchristlichten Welt unterscheidet, aber trotzdem sich nicht abgrenzt, offen ist für Außenstehende und sich nicht hochmütig und hartherzig über andere stellt. Wo Jesus ist, da ist Barmherzigkeit. Davon redet hier ja auch Jesus. Die Pharisäer werfen ihm vor, sich mit Zöllnern und Sündern einzulassen. Er antwortet ihnen: Versteht ihr denn nicht? Gerade diese Menschen brauchen mich, so wie die Kranken einen Arzt. Sie brauchen mich und meine Barmherzigkeit.

Bei seinen Anhängern sollte auch diese Barmherzigkeit zu entdecken sein. Wie könnte es anders sein, da Jesus ja selber barmherzig ist. Wer am eigenen Leib erfahren hat, wie sich Jesus gerade ihm in seiner Schwachheit und Sünde zugewendet hat, der kann doch nicht anders, als anderen gegenüber ebenfalls barmherzig zu sein. Die Menschen um uns herum warten wie wir ja auch nicht auf Vorwürfe, sondern auf Barmherzigkeit. Auch der freche Junge von nebenan, auch der grantige Nachbar und die allzu geschwätzige Nachbarin, sogar der, der mir an meiner Arbeitsstelle eins auswischen will und der allzu strenge Lehrer, auch die, die auf Gott und sein Wort pfeifen und sogar die, die nur fromm scheinen, aber es in Wirklichkeit gar nicht sind.

Sie alle können wir spüren lassen, dass wir sie trotz ihrer Fehler nicht verachten, so wie Jesus ja auch uns wegen unserer Sünde nicht wegstößt, sondern uns annimmt und vergibt. Auch wenn es schwerfällt.

Dazu zum Schluss noch ein Beispiel: Ein Lehrer leidet an Multipler Sklerose, ist aber noch berufstätig. Er gibt in einer dritten Klasse Religionsunterricht. Er klärt die Klasse über seine Erkrankung auf, damit die Kinder nicht erschrecken, wenn er sich einmal schlecht bewegen kann. Die meisten machen im Unterricht gut mit, nur einer stört ständig.

An einem Morgen passiert es: Der Lehrer kann sich nur ganz schlecht bewegen und kommt deshalb zu spät zum Unterricht. Die Klasse ist etwas verlegen, als sie ihn hereinkommen sieht. Da macht der Störenfried den Mund auf: „Du bist ja ein Krüppel!“

Dieser Satz ging dem Lehrer wie ein Stich durchs Herz. Zuerst war er wie geschockt. Es tat so weh, dass er kein Wort herausbrachte. In der Klasse war es ganz still geworden. Alle waren gespannt, was jetzt wohl passieren würde. Nach einer Schrecksekunde kam dem Lehrer ein Geistesblitz. Reagiere anders. Schlag nicht zurück und nimm ihn in den Arm. Ja dann ging er langsam zu dem Schüler, der ihn so verletzt hatte und sicher mit einer Ohrfeige rechnete, und nahm ihn in den Arm. Die Klasse war mucksmäuschenstill. „Du hast mir sehr weh getan. Das weißt du. Aber du bist eigentlich gar nicht böse und gemein. Du tust diese Dinge, um von deinen Klassenkameraden anerkannt zu werden. Du willst Anerkennung erfahren und geliebt werden, wie jeder von uns. Du brauchst nicht die Rolle des Bösewichts zu spielen.“ Dann nahm er ihn nochmal kräftig in den Arm und sagte: „Wir haben dich auch so lieb, wie du wirklich bist.“

Nach diesem Vorfall arbeitete der vorher so auffällige Schüler mit und hörte, jedenfalls im Religionsunterricht, mit seinen Störaktionen auf.

Der Lehrer konnte in der Nachfolge Jesu mit Barmherzigkeit auf das provokative Verhalten des Schülers reagieren. Er konnte hinter die Fassade des Störenfrieds sehen und entdeckte: Da ist ja jemand, der nach Liebe und Aufmerksamkeit hungerte, die er woanders vielleicht nicht bekommen hatte. Und der Weg für eine Veränderung war offen.

Bei dem Zöllner Matthäus war es ja ähnlich. Dieser ehemals raffgierige Zöllner wurde zu einem Jünger Jesu und später sogar zu dem Verfasser des ersten Evangeliums. Was für eine Veränderung! Eine Veränderung, die für andere um uns herum hoffen lässt – und natürlich auch für uns.

Ja, hoffe auch für dich. Du sollst keine Minderwertigkeitsgefühle haben. Ich denke, die haben so manche in unseren Reihen. Vielleicht auch, weil sie das, was sie gehört haben, falsch verstanden haben. Weil sie meinen, sie müssten sich wegen ihrer Sündhaftigkeit verachten. Jesus tut das nicht. Wir brauchen es auch nicht. Oder es ist ihnen in ihrer Kindheit eingeredet worden: Du taugst nichts. Du bist nicht liebenswert. Oder weil sie eine entsprechende Veranlagung haben. Denen muss man sagen: Du bist gewollt, geliebt und wirst auch gebraucht von Gott. Auch wenn du denkst: ja, die anderen sind doch viel toller als ich. Sind schöner, begabter, klüger. Jesus kann auch mit dir noch etwas Besonderes vorhaben, dein Leben zum Aufblühen bringen, ob du jung oder schon alt bist. Damit rechne.



Amen